Täglich einmal Kopfgymnastik

Christoph Bauer erzählt in seinem Roman „Jetzt stillen wir unseren Hunger“ die amüsante Geschichte eines liebenswerten Kreuzbergers, der es sich in seiner vornehmen Isolation ganz schön kuschlig gemacht hat. Dabei sind alle Ähnlichkeiten mit dem Autor keinesfalls zufällig

von SUSANNE MESSMER

Wer nicht erst seit zwei Jahren in Berlin lebt, wer Mitte nur zu besonderen Anlässen bereist und sich nicht besonders darum schert, dass Bonner Beamte nun schon einen Karneval in Berlin installieren wollen, der wohnt nicht selten in Kreuzberg.

In Kreuzberg, das weiß man, ist Arbeit nicht die Grundlage der Zivilisation. Patchworkbiografien und zersplitterte Subjekte gibt es hier nicht wegen verstärkter Lektüre postmoderner Theoretiker, wegen Flexibilisierung oder Automatisierung, sondern weil es mehr Spaß macht, am Landwehrkanal zu flanieren und mit bekannten Passanten ab und zu ein Schwätzchen zu halten, als täglich im Büro zu sitzen. Weil es immer noch besser ist, mal dies und mal das zu machen, als immer dasselbe. Ein Kreuzberger aus dem Bilderbuch weiß, wo man billig leckeren Wein kaufen und überhaupt mit wenig Geld gut leben kann. Er liebt die Muse, ist kulturell interessiert, und von allen Gedanken schätzt er am meisten die interessanten.

Um genau so einen Kreuzberger handelt es sich bei Christoph Bauer. Wie er da in einem Café in der Nähe des Südsterns sitzt und aus seinem Leben plaudert: Man könnte ihn glatt mit dem Helden aus seinem gerade erschienenen Debütroman „Jetzt stillen wir unseren Hunger“ verwechseln. Dass es biografische Überschneidungen gibt, dass Christoph Bauer wie sein Held Tom Weinreich einmal Philosophie studiert und gelehrt hat und auch mal Taxi gefahren ist, sei ihm nur aus Bequemlichkeit passiert. Die Art Tom Weinreichs aber, sich täglich beim Schuheschnüren einen Gedanken auszusuchen, um mit diesem dann zwei Stunden die gleiche Runde durch Kreuzberg zu drehen, ohne die Stadt dabei wahrzunehmen, diese Marotte habe er sich einfach ausgedacht.

„Jetzt stillen wir unseren Hunger“ erzählt die poetische, leise und sehr amüsante Geschichte eines liebenswerten Kreuzbergers, der es sich in seiner vornehmen Isolation ganz schön kuschlig gemacht hat. Allerlei ungelöste Welträtsel treiben ihn um, erkenntnistheoretische Probleme. Aber oft macht er es sich auch mit sich selbst schön: Denkt sich so lang verschrobene Albernheiten aus, bis er gute Laune bekommt.

Niemand stört ihn bei seiner täglichen Kopfgymnastik, niemand korrigiert ihn und braucht ihn dafür. Bis eines Tages dann eine Frau auf ihn zutritt, sich ihm in seinem Treiben anschließt und schnell als Seelenverwandte entpuppt. So ganz aus Fleisch und Blut, so ganz von dieser Welt scheint diese Mascha allerdings auch nicht zu sein.

Christoph Bauer ist wirklich kein gewöhnlicher Berliner Debütant. Zwanzig Jahre älter als einige seiner jüngsten, hippen Schriftstellerkollegen, hat der in Berlin Aufgewachsene schon einiges auf dem Buckel, was sich diese durch mühselige Auslandsaufenthalte in den Lebenslauf holen. Nach seiner Magisterarbeit und Lehraufträgen über künstliche Intelligenz und neuronale Netze im Fachbereich Informationswissenschaft arbeitete er in einem frustrierenden Strohmann-Job für einige Jahre bei der Treuhand.

Über seine von vornherein vergeblichen Versuche, einen Bruchteil ostdeutscher Betriebe vorm Bankrott durch die Privatisierung zu retten, hat er – und das war sein allererster literarischer Versuch – eine Art Roman geschrieben. „Westschrott“, das ist ein Patchwork aus Essays, Fragmenten und einer Komödie geworden, „in der zwei anarchistische Strolche die Hauptrolle spielen“, so Bauer, das aber kein Verlag wollte und wohl auch nie wird haben wollen.

Aber Bauers Interesse am Schreiben war geweckt, und die vielen Ablehnungen reizten ihn erst recht. Ohne jemals etwas in Zeitschriften veröffentlicht zu haben, setzte er sich vor zwei Jahren an seinen Schreibtisch: Mit einem Plan zum Roman, mit frisch entwickeltem Stilbewusstsein und einem richtigen literarischen Konzept. Als er dann prompt das Alfred-Döblin-Stipendium der Akademie der Künste bekam, tauchte er ganz ein in seine Geschichte. „Es war wie im Rausch“, sagt er.

Christoph Bauer sieht keine Notwendigkeit, sich im Ostteil seiner Stadt auszukennen, solange er sich doch in seinem eigenen Viertel wohl fühlt. Er genießt den Dorfklatsch in Kreuzberg und lässt kein einziges gutes Haar am neuen Trubel um Hauptstadtwahn und Berlinroman. „Was da an Texten herauskommt, das will ja kein Mensch lesen“, erzählt er, „das ist überflüssiges Geschwätz von literarischem Nullwert“. Und: „Ich habe diese Texte nie wirklich gründlich lesen können, weil es mich von Anfang an gelangweilt hat.“

Auch wenn sein Held Tom Weinreich, in einer anderen deutschen Stadt platziert, eher Richtung Randexistenz tendiert hätte, auch wenn einige Straßennamen genannt werden: In „Jetzt stillen wir unseren Hunger“, das übrigens schon vor seinem Erscheinen auf Platz neun der SWR-Bestenliste rutschte, glänzt die Stadt eher durch Abwesenheit. Weil er so weniger Gefahr läuft, in einen Berliner Vermarktungsstrudel hineingezogen zu werden, ist Christoph Bauer darum auch ganz froh. Als wir die Rechnung zahlen, spricht ihn unsere Bedienung an: „Na? Interview zu Ende? Da muss ich mir ja bald ein Autogramm holen, solange du noch Zeit hast!“

Christoph Bauer: „Jetzt stillen wirunseren Hunger“. S. Fischer, Frankfurt/Main, 2001, 288 Seiten, 39,90 DM;Christoph Bauer liest heute Abendum 20 Uhr in der Kantine der Kulturbrauerei, Knaackstraße 97, Prenzlauer Berg