: Ist dies Herrn Raabs Welt?
von PETER UNFRIED
Das erste Wort ist immer sensationell. „Sensationell!“ Kommt raus, rutscht die Treppe runter, kriegt Beifall, sagt: „Sensationell“. Was meint Stefan Raab? Die Beiträge, die Witze, die Gäste? Alles wird sensationell geheißen. Bei Harald Schmidt übrigens auch.
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Warum dieser Hass? Warum sind bestimmte Kreise dermaßen aufgebracht über den Homo novus Raab, dass Sie ihn „mondgesichtigen Dauergrinser“ schimpfen und sogar Zeit finden, dafür eigens Leserbriefe an den Spiegel schreiben – wie Dr. Dieter Wedel? Warum verteidigen sie Schmidt, als garantiere jener die Rettung des Abendlandes? Zunächst: Weil Schmidt in ihrem Alter ist – und in etwa ihren Bildungsstand referiert. Weil er den „Enzensberger des Privatfernsehens“ (Nils Minkmar, Zeit) gibt. Ein Bildungsbürger? „Wer ist heute noch so gebildet wie Joachim Kaiser?“, fragt selbst der gelehrte Schmidt-Freund Joseph von Westphalen. Eben. Es gibt keine Bildungssbürger mehr (jedenfalls nicht unter 55, wahrscheinlich nicht unter 65). Schmidt ist ein Post-Bildungsbürger. Den Raab halten Menschen mit diesem Bildungs- bzw. Bewusstseinsstand für einen Stammtisch-Huber, seine Arbeitsweise für „plumpe Vulgäranmache“ (AZ-Medienkritikerin Ponkie).
Es stimmt: Raab interpretiert vieles im genitalen Zusammenhang. Da ist der Pubertätsvorwurf nie weit. Aber Raab ist eben jung (33). Sein wabbeliger Körper (laut Eigenangabe 87,2 kg) geht zwar bereits in die Erschlaffungsphase eines Vierzigers über – aber noch lebt er. Schmidt ist uralt (43). Er ist zwar drahtig, agiert aber weit gehend körperlos. Sex interessiert ihn praktisch nur noch bedingt. Das hat er mit denen gemein, die ihm täglich bis Mitternacht zusehen.
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Schmidt trägt die Uniform des US-amerikanischen Late Talkers – den dunklen Anzug. Er ist teuer und akkurat angezogen, teuer und akkurat frisiert. Seine Schule ist unübersehbar: Die Vorgänger Carson, Letterman, Leno. Anarchie ja, aber gepflegt muss sie sein. Wenn Schmidt nicht aufpasst, sieht man ihm die Jahre auf deutschen Kleinkunstbühnen an. Raabs Kleidung (weite, bunte Hemden, darunter weiße T-Shirts) ist ihm offenbar so unwichtig wie Frisur (keine) und Figur (breit). Das liegt daran, dass er vom „Jugend“-Sender Viva kommt. „TV total“ ist letztlich nur eine Weiterentwicklung jener Musiksendung, die er viele Jahre für Viva gemacht hat.
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Für den Fernsehabend mit „Girlscamp“, sagte Raab, habe er „alles bereitgelegt – Bier, Nüsschen, Tempotaschentücher“. Das kann man mal wieder auf den Begriff Zote reduzieren – oder verstehen als brillante Analyse über neue TV-Formate und deren Wirkungskonzepte – und Nutzungsweisen. (Aus ihnen resultieren ja in letzter Konsequenz auch die Auflagenprobleme von ähnlich angelegten Printformaten ).
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Wo wir schon dabei sind: Bei Schmidt haben übrigens „die Intellektuellen daheim was zum Onanieren“ (Spiegel-Medienredakteur Oliver Gehrs in der taz). Schmidt geilt sie mächtig auf. Nicht, indem er eine TV-Blondine wie Aleksandra Bechtel mit einer Schulhofzote auf ihre Funktion als Sexobjekt reduziert bzw. diese Funktion ehrlich benennt und entlarvt.
Das macht Raab.
Schmidt nennt seinen Dauergast Bechtel zwar auch „sexy wie eh und je“, aber seltsam: Nachdem er es gesagt hat, erlischt sofort – so je vorhanden – jegliches körperliche und geistige Interesse an der armen Frau. Nein: Schmidt geilt seine Post-Bildungsbürgerfreunde auf, indem er einen unbekannten Thomas-Bernhard-Biografen promotet. Oder einfach den Namen „Nathaniel Hawthorne“ ausspricht. „Hooo-sssooorn“. Ooops – schon geht seinem Fanklub mächtig einer ab.
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Aber, Vorsicht: Verteidigt Schmidt wirklich den Post-Bildungsbürger? Oder macht er sich über ihn lustig? Oder beides? Macht Schmidt sich über sich selbst lustig? Über einen Mann, der mit Mühe Monet und Manet unterscheiden kann. Führt Schmidt den Post-Bildungsbürger vor, der sich seiner lückenhaften Bildung schämt? Oder ist Schmidt wirklich der letzte, große, deutsche Moralist? (Ein Zustand, den er als Kabarettist natürlich von der Pieke auf gelernt hat und von dem man lange Jahre dachte, dass er ihn überwunden habe – denn genau das machte den Qualitätsunterschied aus.)
Hat Schmidt sich desillusioniert auf eine moralische Basis zurückgezogen? Angesichts der Welt? Die immer mehr Raabs Welt wird. Das sind so Fragen. Klar ist nur eines: Raab (Pro 7) und Schmidt (Sat.1) haben den selben Arbeitgeber – Herrn Leo Kirch.
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Raabs Bildung hat übrigens keine Lücken. Raab ist in fast allen Bereichen (siehe Schaubild) eine einzige Total-Lücke. Keine Tagespolitik, keine Anspielungen auf klassische Bildung. Keine Tabus.
Schmidt thematisiert Tabus, Raab ist dermaßen unbelastet, dass er auf den totalen Witz gehen kann. Vielleicht ist es so: In Raabs Welt ist kein Auschwitz mehr. Falls ja, wessen Schuld ist das? Es letztlich zu klären, braucht es ein Zeit-Dossier. Mindestens.
Klar ist: Raabs Schule ist das Fernsehen. Da lernt er was über das Fernsehen. Und dann ist da die Musik. Irgendein Raab-Forscher hat gesagt, von ihm bleibe nichts. Das ist nicht richtig. Raab hat dieser Welt große Dinge hinterlassen. Es sind die Popsongs „Böörti Vogts“, „Wadde Hadde Dudde Da“ und „Hol mir mal ne Flasche Bier“. Sonst nichts? Nein. Aber Raab hat auch deswegen keine Schuldgefühle.
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Raab interessiert sich auch nicht für seine Gäste. Dennoch sind sie im Gegensatz zu Schmidts Gästen nicht qua Gesetz uninteressant. Raab interessiert sich dafür, sie für seine Witze zu gebrauchen. Das hat einen gewissen Reiz. Raabs Gäste sind unbekannter und darum bereit, auch etwas dafür zu tun – sich richtig zum Narren machen zu lassen. Die wirklich Bekannten benutzt Raab, um über sich zu reden. Der frühere Popstar Lionel Richie interessiert (ihn) nur, weil er, Raab, mit 14 in einem Commodores-Konzert war. Das Über-Sich-Reden hat Tradition. Es ist die alte Biolek-Schule.
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Einmal empfing Raab eine gewisse Michaela Schaffrath. Diese junge Frau wollte über ihren Rollenwechsel von der „Pornodarstellerin Gina Wild“ zur „Expornodarstellerin Gina Wild“ berichten. Schmidt hätte sie ihre Gähnnummer durchziehen lassen. Raab nicht. Raab machte das Beste draus. Auf Ihre Frage: „Hast du mein neues Video bekommen?“, antwortete er: „Meine Autoren holen sich damit einen runter.“
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Manche Menschen können das nicht sehen. Es ist ihnen peinlich. Raab, die Gäste, alles. Manchmal schickt Raab diese Gäste wieder weg, weil er sich in der Zeit vertan hat. Die Gäste nehmen das hin. Die Gäste nehmen alles hin. Eine junge Kollegin namens Barbara ließ sich lächelnd als Totalversagerin hinrichten. Oder feiern? Sie hatte jedenfalls keine Quote. Also geschieht es ihr recht. Das hält sie offenbar für professionell.
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Schmidt durchsucht seine Welt. Nach Gedanken. Er lässt Gedanken entstehen. Er entwickelt Gedanken. Deshalb ist er besser, seit Manuel Andrack den wenig inspirierenden Helmut Zerlett als Ansprechpartner abgelöst hat. Andrack ist der Zuschauer, der nun direkt mit Schmidt Gedanken entwickeln kann.
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Der Titel von Raabs Produkt ist „TV total“. Das ist programmatisch. Philosophisch. Endgültig. Raab sucht seine Welt (also das Fernsehen) nach Material ab, um Witze machen zu können. Sein Material sind bewegte Bilder. Ohne Fernsehen ist kein Raab. Das Prinzip Raab ist ein Grundprinzip des Mediums. Es heißt: Wenn man etwas lange genug wiederholt, wird es „Kult“. Raabs Sendungen bestehen zu einem großen Teil aus Sätzen wie „Ich zeig’s Ihnen noch mal“ – „Ich wiederhole noch mal für Sie.“ – „Schauen Sie noch mal genau hin!“.
Immer muss man sich etwas noch mal zeigen lassen, noch mal sagen lassen. Auch Gästenamen werden endlos wiederholt. Aber was er oder sein Team in der Welt des deutschen Fernsehens an Skurrilitäten und Wahrheiten über das Leben findet, ist, je nachdem, belanglos, wunderbar und furchtbar. Einige wenige sind die Aphorismen des 21. Jahrhunderts, gesammelt in „Girlscamp“ und den Nachmittagstalkshows.
Das ist das Gute an Raab: Man muss das Zeug nicht selbst anschauen, um den jeweils aktuellen Zustand des Mediums und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft definieren zu können. Raab handelt hier fast wissenschaftlich (je flacher das Thema, desto tiefer muss man schürfen) und kann am Ende in zehn Sekunden das Gesamtphänomen Thomas Gottschalk („Ha, ho, soso, mein Lieber“) genialisch-minimalisch auf den Punkt bringen. Das gelingt ihm aber selten. Es ist lustig, wenn Paola beim Blue-Bayou-Singen ausrutscht. Es bedeutet nichts. Viele seiner kleinen Clips sind schnell ausgereizt, und doch zeigt er sie gnadenlos immer immer wieder.
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Raab: Gina, komm wieder, wenn du demnächst den Grimme-Preis bekommst.
Wild: Was ist das?
Raab: Nicht wichtig.
Wild: Ich komme öfter. Keine Bange.
Wild kokettierte, Raab nicht. Das ist der Unterschied. Raab braucht Lacher. Und Geld. Gerne auch von McDonald’s. Scheißegal. Das macht ihn zur Hassfigur. Weil ihm keiner kann. Außer der Quote.
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Wenn man die beiden Sendungen ein paar Wochen fast jeden Abend konzentriert erlebt, wird man müde. Seltsam müde. Irgendwann greift man unbewusst zur „TV-Spielfilm“. Irgendwann ist „sensationell“ das furchtbarste Wort der Welt geworden. Es peitscht und knallt. Wie eine Ohrfeige. Für den Zuschauer. Diesen Idioten, der etwas Sensationelles erwartet. Obwohl man ihm tausend Mal gezeigt hat, was kommt. Je brutaler das Wort herausgeschleudert wird, desto müder wird man. Wenn Schmidt das Wort besonders laut auf den Markt schreit, dann kündigt er seine Gäste an. Vielleicht meinte er das einmal ironisch, aber das kann der Zuschauer nicht mehr spüren. Wenn Raab auf die Bühne tritt und „sensationell“ brüllt, dann meint er nie seine Gäste. Er meint seine Welt. SICH. Das ist keine Ironie. Das ist ein richtig großer Witz. Los! Lachen Sie!
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