: Lernen im Muff von 1.000 Jahren
■ Der Roman „Onkel Georgs Vision“ karikiert die Schulreformwelle der 70er
Wieder mal die Siebziger. Schauplatz ist ein alteingesessenes Gymnasium in der norddeutschen Kleinstadt Bekebrück. Als Studienrat Hogendiek seine Oberstufenklasse betritt, stehen die Schüler stramm zur Begrüßung. Alle, bis auf Vanessa Bösselmann. „Na“, sagt Hogendiek erwartungsvoll. „Nichts na, Sie autoritäres Schwein“, antwortet Vanessa. Ups. Stille. Studienrat Hogendiek marschiert schnurstracks und mit hochrotem Kopf zum Direktor. Ein Eklat sondergleichen bricht los, und sogleich tagt das Lehrerkollegium, unschlüssig, wie man im Fall Bösselmann reagieren soll.
Das Aufbegehren der Schülerin Bösselmann hat es so nie gegeben. Es gibt weder die Schülerin noch Studienrat Hogendiek noch die Kleinstadt Bekebrück. Sie alle sind allein der Fantasie von Lothar Voßmeyer entsprungen und zugleich Figuren beziehungsweise Schauplätze in seinem 70er-Jahre Roman „Onkel Georgs Vision“.
Das 240 Seiten starke Werk strotzt vor Satire und trockenem Humor. Die schulische Krisensituation spitzt sich später zu, als auf der Nachbarwiese des Gymnasiums eine integrierte Gesamtschule gebaut wird. Der Muff von 1.000 Jahren begegnet antiautoritärem Reformwillen.
Autor Lothar Voßmeyer nimmt in seinem Roman aber beide Seiten auf die Schippe – Lehrbeamte wie Pädagogik-Revoluzzer. Und er nimmt sich selbst dabei nicht aus. Der Alt-68er Voßmeyer war selbst jahrelang Leiter einer Bremer Gesamtschule und auch Oberschulrat in der Schulbehörde. „Ich wollte die Verrücktheiten der Siebziger in den Vordergrund rücken“, erklärt er, „und gleichzeitig ein Stück Schulgeschichte in Dichtung und Wahrheit packen.“
Ein Buch zum Schmunzeln, für regnerische Sonntage im Ohrensessel. Lothar Voßmeyer scheint eine ausgesprochene Vorliebe für Umlaute zu haben. In seinem Schulalltag wimmelt es nur so von Bösselmanns, Schmidt-Öhwelgönnes und Studienräten wie Herrn Tönjes aus Uelzen.
Die Erzählweise ist fast schon Loriot-like, allerdings nur fast, da Voßmeyer sich leider den ein oder anderen schmerzhaften Schenkelklopfer nicht verkneifen konnte. Onkel Georgs Visionen sind bissig, witzig, charmant – ein Lehrer-Schüler-Buch eben. Besonders interessant für diejenigen, die schon allein bei dem Wort „Lernentwicklungsbericht“ anfangen zu prusten und für die Klausurtagungen zur Gestaltung des Wahlpflichtfachangebotes keine böhmischen Dörfer sind. Aber keine Sorge: Auch Nicht-Insider können mal schmunzeln. spo
Lothar Voßmeyers Roman „Onkel Georgs Vision“ ist im Donat-Verlag erschienen und kostet 24,80 Mark.
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