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Verwischte Spuren

Ein Gedicht ist selten länger als ein Abschiedsgruß und Papier ein flüchtiger Stoff: „Die Außenseite des Elementes“ ist eine Anthologie, die halbjährlich Kunst und Lyrik aus der Pappschachtel präsentiert

von TOBIAS HERING

Seit mehr als acht Jahren gibt es „Die Außenseite des Elementes“. Ein Projekt, eine Bewegung, ein Verlag mittlerweile, den man an der Schachtel erkennt, die er halbjährlich bestückt und herausgibt. In dem unscheinbaren Braun, auf das sich alle Pappe der Welt geeinigt hat, ist die Schachtel ein Hohlraum, in dem vieles möglich ist.

Drinnen ist Kunst auf losen Blättern, Lyrik, Kurzprosa, grafische Arbeiten und als Beigabe immer ein Gimmick. Blätter, die zum Lesen einzeln herausgenommen werden wollen und sich dabei neu sortieren oder sogar aussortieren lassen zur Hinterlegung in anderen Schachteln für andere zu anderem Gebrauch. Papier wird hier zum flüchtigen Element und konterkariert damit die scheinbare Schwerkraft dessen, was schwarz auf weiß niedergelegt wurde.

Für die redaktionelle Arbeit von Jan Wagner in Berlin und Thomas Girst in New York ist die Schachtel durchaus stilbildend. Die von der Form vorgegebene Offenheit übersetzt sich in eine unverkrampfte und überraschende Bandbreite der veröffentlichten Arbeiten. Angeregt von der Schachtel Marcel Duchamps sollte für Literatur eine Box geschaffen werden, in der Autoren verschiedenster Herkunft und Stile ihre Arbeiten hinterlegen können: als ausgefeilte Schmuckstücke, als Zwischenstadien eines anhaltenden Versuchs oder auch als Zeugnisse einer Wut, die vielleicht verfliegt, aber nicht vergessen werden will.

Das unprätentiöse Auftreten ist keineswegs ein Vorwand für qualitative Beliebigkeit. Und „Non-Profit“ auf dem Deckel sollte wohl nicht missverstanden werden: Dass keiner daran verdient, heißt nicht, dass keiner davon profitiert. Vor allem die Leser profitieren, die hier zu Recht „geneigte“ genannt werden über ihren Schachteln. Aber auch die Texte und Zeichnungen gewinnen aus dem, was sich zwischen ihnen aufbaut und was sie gar nicht ahnen konnten. Sie fangen einander auf oder lachen einander aus quer über den Schachtelrand hinweg. Die Eigenständigkeit der Arbeiten wird derart jedoch erst in der Fantasie der Leserin herausgefordert.

Bei der Auswahl geht es darum, den Spagat zu schaffen zwischen Offenheit und hohen Qualitätsansprüchen. Was in der Schachtel ist, soll den Charme des zufällig Hereingewehten ebenso wie die Faszination eines seltenen Fundes haben. Ein programmatischer Wille zum „Feature“ oder zur Tendenz ist nicht erkennbar, wohl aber der Verdacht, dass der lyrische Moment nicht notwendig an Orte und Biografien gebunden ist.

Von Anfang an war man bemüht, Kontakte in verschiedene Länder zu bekommen und kompetente Übersetzer zu finden. Autorenkontakte wurden gepflegt, die Schachtel wurde herumgereicht und angereichert, der Verzicht auf Honorare war kein Hindernis. Über 30 AutorInnen aus mehreren Ländern bestücken mittlerweile jede Schachtel, mit jeder neuen Ausgabe kommen neue hinzu. Erstlingswerke finden sich ebenso wie Arbeiten namhafter Künstler wie die des Pulitzer-Preis-Trägers James Tate. Ulrike Draesners schrille Momentaufnahmen stehen neben den bedachtsamen Versuchen des jungen Berliners Björn Kuhligk, der Flüchtigkeit des Moments hinterherzuschreiben. Die pointierten Wortspiele von Rainer Stolz erscheinen zwischen kurzen, mal grotesk komischen, mal dumpf bedrohlichen Prosastücken. Deutsche und amerikanische Texte sind stark vertreten. Aber auch Autoren aus Dänemark, Polen oder Kanada sind dabei – und auch solche, deren Biografien und Sprachen sich gegen eine nationale Zuordnung sperren.

Vor einem halben Jahr gab es eine Ausgabe mit einem Schwerpunkt auf persischer Lyrik, für den Herbst ist ein Schwerpunkt Niederlande geplant. Derzeit ist für 15 Mark die No. 10 im Umlauf und Verkauf. Zum Jubiläum gab es unlängst eine Lesung im Café Maybach in Kreuzberg. Im Hinterzimmer ein großer und doch intimer Kreis von Leuten, aus dem sich, wenn sie an der Reihe waren, die Autorinnen und Autoren lösten. Wäre es ein konspiratives Treffen gewesen, hätten alle sich verschworen für etwas, was draußen noch nicht ist, oder gegen etwas, wovon es draußen schon zu viel gibt, dann hätte es einen Durchsuchungsbefehl gegeben und einen, der ihn ausführt. Man hätte lose Blätter gefunden, fallen gelassene Worte und Asche von kaum gerauchten Zigaretten, deren Schachteln und die der Blätter. Die Indizien hätten keinen klaren Sinn ergeben und das hätte den Verdacht bestätigt, der vorher gar nicht bestanden hatte. Ein Gedicht ist selten länger als ein Abschiedsgruß, niemals eine Zigarettenlänge. Und verwischte Spuren sind beredter als die, in denen man lesen kann.

Die Außenseite des Elements – Non Profit Art Movement, ISBN 3-9806173-5-1, weitere Informationen unter www.aussenseite.de

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