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Schüchterne Spieluhren

Am Reißbrett vermessene Materialgruppen werden zu lebendigen, tastendenTönen: Rebecca Saunders schwirrendes Orchesterstück „G and E on A“ auf der Musik-Biennale

Den psychoakustischen Sog haben die Minimalisten vielleicht erfunden, aber sie haben ihn nicht monopolisiert. Die Repetitivität, die die stoischsten Werke etwa von Steve Reich auszeichnet, galt lange als die einzige überzeugende musikalische Metapher zeitlichen Stillstands. Spätestens mit der Entdeckung der Musik des italienischen Klangmystikers Giacinto Scelsi in den Achtzigerjahren gilt auch das dauerhafte Umwerben eines Einzeltons als wirkungsvoller Bruch mit dem Nacheinander musikalischer Ereignisse.

Hier knüpfen die Stücke der englischen Komponistin Rebecca Saunders an. Auch sie arbeitet oft mit einem einzigen Ton, der unter ihren Händen zu schwirren beginnt, der in stehenden Wellen pulsiert und ein Eigenleben entwickelt. Dabei läuft Saunders nie Gefahr, ein sphärisches Klangfarbengeplänkel aus Samt anzustimmen. Stattdessen tasten ihre flächigen Projektionen minutiös eine raue und ungeschliffene Oberfläche ab. Kein Samt also, sondern Drillich. In ihrem ersten Orchesterstück, „G and E on A“ (1997), das heute Abend im Rahmen der Musik-Biennale aufgeführt wird, schwärmen die Klänge um die drei namengebenden Tonhöhen wie Bienen um ihre Königin.

Bevor Rebecca Saunders im emphatischen Sinne des Wortes komponiert, schreibt sie Materialgruppen. Das können Klangfamilien sein, die sich zu einem beweglichen Gewebe zusammenschließen, oder ist ein einzelner Ton, der zu einer „sound surface“ (Saunders) aufgefächert wird. Der Kompositionsprozess selbst gleicht bei Saunders dann einer Montage. Die Materialgruppen sind fein säuberlich ans Reißbrett geheftet, es wird gewogen und vermessen, was mit wem wann zusammenklingt, welche Klanggestalt in einer anderen aufzugehen vermag und welche im Gegenzug drohende Homogenität aufzulösen verspricht.

Zu schroffen Brüchen findet Saunders in ihren Werken immer dort, wo ihre dichten Klanggewebe den Fortgang der Musik nicht länger gewährleisten. Dann greift die Komponistin zu fremden Klangobjekten. Sie zersetzt musikalischen Fluss mit nervös tickenden Metronomen, unterbricht Stille rigoros mit schmerzhaften Trillerpfeifensalven oder lässt das Durcheinander einer Fülle von Radios für einige Minuten über den Verlauf ihres Stücks bestimmen. In „G and E on A“ sind es 27 Spieluhren, die schüchtern klimpernd den dichten Strom des Werks zerfressen.

Die 1967 geborene Londonerin, die heute in Prenzlauer Berg lebt, studierte von 1991 bis 1994 bei der Karlsruher Personifizierung musikalischer Subjektivität, Wolfgang Rihm. Rihm vermittelte keine Kompositionstechniken, sondern lehrte vielmehr, die Unmittelbarkeit der eigenen Musik zuzulassen und auf absichernde Systeme zu verzichten. Saunders Musik ist stark vom Bemühen um Ausdruck und Kraft geprägt. Ein Sachverhalt, der nicht gerade zu überbordenden Kommentaren einlädt, wie ja auch die Musik Wolfgang Rihms insbesondere dadurch glänzt, dass sie begrifflich kaum zu fassen ist.

Seit 1991 ist der Werkkorpus auf siebzehn, meist kammermusikalische Kompositionen angewachsen, darunter drei Stücke über den Schlussmonolog der Molly Bloom aus dem Roman „Ulysses“ von James Joyce. Bezeichnenderweise sind die Versuche Saunders', des Textes als Gesungenen habhaft zu werden, gescheitert: Der Zyklus bleibt instrumental, ein geflüstertes „Yes“ der MusikerInnen ist am Ende der einzige Hinweis auf die literarische Vorlage. Das Fehlen von Vokal- oder auch Bühnenmusik in ihrem Katalog zeugt von kritischem Selbstbewusstsein: „vielleicht irgendwann“ zählt zu den Lieblingsantworten, die die vorläufigen Gattungslücken erklären. BJÖRN GOTTSTEIN

Heute, 19 Uhr, Philharmonie, Herbert-von-Karajan-Str. 1, Tiergarten

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