: Schiwago-Walzer im Wald
Wahre Lokale (62): Der märchenhaft idyllische „Schmetterlingshorst“ in Berlin-Grünau
Lange Winterabende können so schön sein, wenn man sie ihrer eigentlichen Bestimmung widmet: dem Auf- und Umräumen. Mir fielen dabei neulich die Dias von einem wahrlich bezaubernden Spätsommernachmittag in die Hände. Meine Freundin hatte mich zur Jungfernfahrt in ihr neu erworbenes Paddelboot eingeladen. Ein Zweier-DDR-Modell, das im „Sportdenkmal“ Grünau in der Garage von Herrn Wich liegt. An jenem Tag war ich sehr verkatert und unsportlich, deswegen reichten die Kräfte nicht weit, genauer gesagt: nur bis ans andere Ufer des Langen Sees. Dort gingen wir im Schilf vor Anker, holten Thermoskanne und Zeitungen heraus und lagen in der Sonne. Aus der Ferne hörten wir ein merkwürdiges Gewummer, Ausflugsgaststättenmusik, die uns irgendwann aber doch anlockte. Wir ließen uns die paar Meter bis zum morschen Anleger treiben, zogen das Boot an Land – und entdeckten ein wahrhaft wundersames Lokal: den „Schmetterlingshorst“.
Draußen standen wackelige Holztische mit karierten Decken und handgepflückten Spätsommersträußen, an denen sich Spaziergänger mit ihren Dackeln und Kindern niedergelassen hatten. Ein flachsblondes Mädchen schwirrte wie eine Mischung aus Schmetterling und Serviererin um die Tische und fragte die Gäste in einer fremd klingenden Sprache, ob sie nicht ein wenig Geld spenden könnten . . . Wir begriffen noch nicht ganz und gingen in das Gebäude, wo uns ein geradezu märchenhaftes Idyll umfing: drei Sibirierinnen in prachtvollen Trachten mit glitzernden Häubchen, gestärkten Schürzen und rollendem Akzent verkauften Pelmeni, Kuchen, Wodka und andere russische Spezialitäten. Das alles zu Preisen, die den Eindruck verstärkten, wie durch einen Zaubertrick in einer russischen Provinzgaststätte gelandet zu sein. Beim Warten auf unsere Speisen konnten wir einen Blick in die Küche erhaschen. Um den gewaltigen Herd herum saßen zufrieden trinkende Ehemänner und Väter, die eine dicke Köchin bei der Arbeit beobachteten. Die drei Damen hinter der Theke, bienenfleißig und umwerfend freundlich, fanden derweil Zeit für eine Plauderei über ihr „Projekt“.
Der „Schmetterlingshorst“ war nach der Wende einem traurigen Schicksal überlassen worden, kein Wirt hatte in der neuen kapitalistischen Zeit das Wagnis eingehen wollen, das mitten im Wald gelegene Etablissement vor den Toren der Stadt weiter zu betreiben. Und so kam es, dass mit der Unterstützung einiger Nachbarschaftsaktivisten sich die kleine Gruppe aus Sibirien stammender Russlanddeutscher des verwaisten Anwesens annehmen konnte. Eine gewisse Frau M. spendierte eine Bohrmaschine, ein anderer Herr machte 200 Mark locker – und schon ging es los. Die kleine Kolonie räumte das neue Zuhause im Wald gründlich auf, und schon bald konnte das Lokal – wiewohl improvisiert – wieder in Betrieb genommen werden. Der Gastraum strahlte blitzblank gescheuert, und von der Serviettenfaltung bis hin zur Speisekarte spürte man, dass dem totgeweihten DDR-Charme des „Schmetterlingshorst“ mit unendlich viel Liebe neues Leben eingehaucht worden war. Bis zum Einbau von Toiletten hatte es im allerdings noch nicht gereicht, die entsprechende Nachfrage wurde mit „Leider noch nicht, bitte in Wald“ beantwortet.
Der Nachmittag ging allmählich in den Abend über, und die Herren aus der Küche räumten die Anlage zum Tanzvergnügen nach draußen. Es erklangen Dr.-Schiwago-Melodien, und eigentlich wäre es wunderschön gewesen, um den mit rot-weißem Bauband abgesperrten Berg von Bauschrott herumzuwalzern. Doch keiner der Herren forderte uns auf, und so entschlossen wir uns irgendwann, das Paddelboot zurück in die Garage zu bringen, mit dem festen Vorsatz, ganz bald wiederzukehren. Zuvor fotografierten wir uns noch unter dem handgemalten Schild „Schmetterlingshorst soll leben“, das über dem Eingang hing.
Doch es sollte der letzte warme Tag gewesen sein, es wurde bald stürmisch und kalt, die Paddelsaison war zu Ende. Im Herbst hörten wir von Ortskundigen, ja, den „Schmetterlingshorst“ würden sie noch von früher kennen, manch vergnüglichen Nachmittag habe man dort zu Ostzeiten verbracht. Und eine Charlottenburgerin wollte gar wissen, dass der erste Besitzer des Lokals – ein Schmetterlingsfreund – nach einer Exotenlieferung aus Südamerika an einer mysteriösen Tropenkrankheit verstorben sei, die in einem nie aufgeklärten Zusammenhang mit seinem Hobby stand. Als jetzt die Bilder vom „Schmetterlingshorst“ plötzlich wieder auftauchten, fuhren wir tags darauf gleich wieder nach Grünau, diesmal langwierig mit Bussen und Bahnen. Es war ein eisiger, verschneiter Wintertag, und nichts wäre schöner gewesen, als im geheizten „Schmetterlingshorst“ Tee aus dem Samowar und vielleicht auch eine heiße Suppe zu bekommen. Doch als wir ankamen, lag das Lokal im tiefsten Winterschlaf. Hinter dem verschlossenen Tor sah aber alles dermaßen aufgeräumt und professionell winterfest verriegelt aus, dass wir zumindest auf ein Wiedersehen mit den netten Sibiriern im nahen Frühling hoffen dürfen. DOROTHEE WENNER
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