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Warten und weiterlesen

Ein Dutzend Anthroposophen haben sich in Hamburg getroffen, um die Debatte über Rudolf Steiners Werk auch einmal intern zu führen. Auf der Suche nach rassistischen Stellen kommen sie zu dem Schluss: Man darf den Meister nicht so genau nehmen

aus Hamburg CHRISTIAN FÜLLER

Am Nachmittag schon finden nur wenige Sonnenstrahlen in den Saal. Der Seminarraum des Hamburger Rudolf-Steiner-Hauses ist im Souterrain. Doch die schummerige Atmosphäre am Hamburger Mittelweg liegt heute nicht nur an den Lichtverhältnissen. Die anthroposophisch inspirierten Teilnehmer des Seminars „Die Überwindung des Rassismus durch die Anthroposophie“ sind an einer heiklen Stelle im Werk ihres Meisters angelangt. 1910 sagte Rudolf Steiner: „Nicht etwa deshalb, weil es den Europäern gefallen hat, ist die indianische Bevölkerung ausgestorben, sondern weil die indianische Bevölkerung die Kräfte erwerben musste, die sie zum Aussterben führten.“

Die Seminaristen schlucken. Aber so steht es da: „die Kräfte, die zum Aussterben führten“. Der Satz stammt aus Steiners „Mission einzelner Volksseelen“. Die bemühte Fröhlichkeit, die Steinerianer so oft auszeichnet, ist jetzt vergangen. Und das bei einem Seminar, das doch zeigen sollte, dass Rassismus allein durch die Anthroposophie zu überwinden sei. Stattdessen Betroffenheit. Eine Handvoll Kindergärtnerinnen, diverse Mitarbeiter des Steiner-Hauses, die Wissenschaftlerin, der Lehrer aus Köln, der Versicherungsangestellte, die Hausfrau, der Klavierstimmer und Ökobauer – kaum einer spricht, und wenn doch, dann fangen sie so an: „Ich bin betroffen.“

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Ich hörte, wie der Häuptling den Leuten zurief, sie sollten keine Angst haben, die Soldaten würden ihnen nichts tun; dann eröffneten die Soldaten von zwei Seiten des Lagers das Feuer. (...) Viele, die ihre Frauen und Kinder oder Freunde verloren hatten, gingen den Bach hinunter und krochen zwischen den nackten und verstümmelten Körpern der Toten über das Schlachtfeld. Wenige fanden wir noch lebend. (Bericht über ein Massaker an Indianern, bei dem Weiße 1864 ein friedliches Dorf am Sand Creek, Colorado, auslöschten.)

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Der Referent Lorenzo Ravagli hat Steiners launige Bemerkung über die Kräfte, die bei den Indianern zum Aussterben führten, nicht zufällig ausgewählt. Sie gehört ins Zentrum seines Denkens. Steiner versuchte zu erläutern, warum sich die Menschheit zu einer bestimmten Zeit in Rassen teilt, in höhere und niedere. Und dass diese Phase erst überwunden werden müsse, um in eine rein geistige Phase der Menschheitsgeschichte eintreten zu können. „Man kann diese Stelle sicherlich nicht so interpretieren“, erläutert der Mittvierziger Ravagli, „dass Steiner hier den Völkermord an den Indianern rechfertigen wollte.“

Die Seminaristen stutzen. So einfach kann selbst ein Lorenzo Ravagli, der im steinerschen Denken gewiss den Rang eines „Erleuchteten“ einnimmt, nicht Licht in die Sache bringen. „Ich ringe darum, ich möchte das formulieren können“, versucht eine Frau das eisige Schweigen der Runde zu brechen. „Vielleicht“, sagt sie, und man glaubt zu spüren, wie sie innerlich mit Steiners Erklärung für den Untergang der Indianer kämpft, „vielleicht war es ein Opfer für die nächste Entwicklungsstufe – wie ein Wachstumsvorgang.“

Das Schweigen hält an. „Da stellt sich die Frage der persönlichen Verantwortung für die Massaker“, insistiert plötzlich eine Frau mit hochrotem Kopf. „Hat Steiner diese Frage gestellt?“, richtet sie das Wort an Ravagli und die Nebensitzenden.

Bislang hatte an diesem wunderschönen Winternachmittag niemand solche Fragen gestellt, niemand auch nur widersprochen. Ravagli, der Philosoph aus München, der den mächtigen Bund der Waldorfschulen berät, hatte beinahe ununterbrochen das Wort. Möglicherweise, so versucht er nun die Spannung zu lösen, sei die Stelle einfach schlecht mitgeschrieben; handele es sich bei den „Volksseelen“ doch um einen der unzähligen Vorträge Steiners. Aber, so ergänzt er grundsätzlich, „wenn man weiß, welch hohe moralische Ansprüche Steiner angelegt hat, dann hat er die Frage nach der persönlichen Verantwortung gestellt. Das muss man sich mitdenken.“

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Die UN-Konvention über Genozide (1994) weist Schuld nicht allein für Völkermord zu, sondern auch für die bewusste Verschlechterung der Lebensbedingungen der angegriffenen Ethnie. Dazu zählt die historische Forschung im Falle der Indianer Nordamerikas u. a. das Abschlachten der Bisonherden durch die Siedler, die heimliche Sterilisierung indianischer Frauen, die absichtliche Ansteckung von Indianern mit den für sie tödlichen Pocken und die Vertreibung aus ihren Stammlanden.

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Ein weiterer Teilnehmer gesteht nun, „mit dem Thema auch meine Probleme zu haben“. Aber er, der eine Art Hausmeister des Hamburger Steiner-Hauses ist, gibt zugleich den Hinweis, wie mit Widersprüchen im Werk des großen Anthroposophen zu verfahren sei: warten und weiterlesen. „Bei Steiner ging mir das oft so“, sagt er. „Man muss das stehen lassen. Denn immerhin gehen wir hier mit Wissen um, das vor 100 Jahren noch Eingeweihtenwissen war.“

Ravagli aber will das Seminar weiter in die Tiefen des steinerschen Ouvres hineinführen. Er hat die Stelle mit den aussterbenden Kräften auch daher ausgewählt, weil er meint, von dort erschließe sich die wahre Bewunderung Steiners für die Indianer. Tatsächlich schwärmte Steiner davon, dass es „etwas Imponierendes hat, wie in der indianischen Bevölkerung eine Anschauung von den geistigen Dingen lebte“. Genauso beeindruckt seien viele Europäer gewesen, als sie „ein hohes spirituelles Leben“ bei den amerikanischen Ureinwohnern vorfanden. Wie bei Rudolf Steiner und Lorenzo Ravagli wechselt nun auch die Laune der Zuhörer ins Andächtige. Man ist durchdrungen gleichzeitig von der Größe der Indianer – und ihrem Schicksal. „Wir kommen“, wie eine Teilnehmerin es ausdrückt, „langsam in die Stimmung, um das zu verstehen.“

Aber Steiners schwelgerisches Pathos über die Indianer und ihre okkulten Fähigkeiten hat eine Kehrseite. Die Indianer konnten nämlich nur zu „dem großen Geiste aufschauen, der die Welt durchwellt und durchwebt“, weil sie „gerade äußerlich-physisch in einer gewissen Weise herabgekommen waren“. Sie waren „verknöchert“, schreibt Steiner, und jeder, der den Meister mal gelesen hat, weiß, was er damit meint: Sorry, aussterben! Oder, in Steiners Worten: Die Sache war bei der Eroberung schon in der Dekadenz. Die Indianer, die man ausgerottet hat bei der Eroberung von Amerika, lebten gewissermaßen ganz aufgehend im Geiste. Die Europäer hatten eine heillose Furcht ...

Im Fünfeckraum ist indes alle Furcht gewichen. Es geht jetzt nicht mehr um Verstehen, sondern um Fühlen. Ravagli sagt, „es kann auch sein, dass man diese Stelle nicht versteht. Dann versteht man sie halt nicht!“ Dann schweigt er. Der Waldorflehrer versucht „seine Gedanken zu bündeln“. Er kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Indianer nicht mehr genug Kraft hatten, um sich zu wehren. Ein anderer nimmt Anlauf, den Tod der Indianer vermittels der kosmologischen Badewanne zu erläutern. Die Seminarleiterin wehrt letzte aufflammende Einwände ab: „Wir müssen hier ja kultiviert zu Ende kommen.“

Das Seminar ist zu Ende. Vor dem Steiner-Haus kein erleuchtetes Ich, das große Ziel der Anthroposophen, kein die Leiblichkeit und den Rassismus transzendierender Geist. Nur Finsternis, stockfinstere Nacht.

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