: Rangordnung der Schwachen
Die Supergewerkschaft Ver.di muss neue Beschäftigtengruppen ansprechen. Dabei sollten sich die Gewerkschaften von manchen überholten Solidaritätslügen trennen
Eine Flugblattaktion wäre das Falsche gewesen. Hätte jemand in dem Multimediaunternehmen Pixelpark Zettel verteilt, die in großen Lettern einen Betriebsrat fordern, „hätten wir bei den Beschäftigten sofort Abwehr erzeugt“, glaubt Wille Bartz. Flugblattaktionen, das sieht eben zu sehr nach Gewerkschaft aus. Und wer als Gewerkschafter bei den Jüngeren Erfolg haben will, muss möglichst so tun, als sei er kein Gewerkschafter. Jedenfalls kein gewöhnlicher.
Bartz ist kein gewöhnlicher Gewerkschafter. Bartz gehört zu connexx.av, einer Art neuer Filiale der Gewerkschaften DAG und IG Medien, zuständig unter anderem für Multimediafirmen. Bartz und seine Mitarbeiter sind gerade ein bisschen berühmt geworden, denn sie haben bei Pixelpark eine Betriebsratswahl angeschoben, indem sie über das unternehmensinterne Netz E-Mails an 1.500 Mitarbeiter schickten. „Ein ganz neuer Kommunikationsstil!“, lobten die Zeitungskommentatoren. Die Kunst erfolgreicher Gewerkschaftspolitik besteht heute nicht mehr im Einsatz der alten Mittel, sondern vielmehr darin, die alte Symbolik tunlichst zu vermeiden. Das wiederum ist neu.
Bartz bezeichnet sich als „Projektmanager“ von connexx.av – ganz so, als sei er selbst Teil eines New-Economy-Unternehmens. Auf Websites und über eine Hotline bietet seine Gewerkschaftsfiliale Beratungen in Arbeits- und Vertragsrecht an und hilft bei der Gründung von Betriebsräten. „Wir müssen die Bedürfnislage der Leute kennen lernen“, meint Bartz. Bedürfnislage! Keine Rede ist mehr von der Kampfkraft der Masse, von ausbeuterischen Unternehmern, von Solidarität. Wer wann Solidarität braucht und wer welche geben kann, muss vielmehr neu definiert werden. Die Solidaritätsfrage ist offen – und das gilt für die gesamte neue Arbeitswelt.
Die Gewerkschaften müssen sich dem Problem stellen. Connexx.av wird demnächst zur neuen Supergewerkschaft Ver.di gehören. Fünf Gewerkschaften, die Handelsgewerkschaft HBV, die Postgewerkschaft DPG, die IG Medien, die ÖTV und die Angestelltengewerkschaft DAG werden zur Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft, zu Ver.di verschmelzen. Diese Veränderung ist erst mal nur eine symbolische: Namen und Logos der alten Organisationen verschwinden. Inwieweit sich damit auch die traditionelle Gewerkschaftsideologie der Solidarität wandeln kann, das ist die spannende Frage. Und davon hängt die Zukunft der Gewerkschaften ab.
Denn in der Praxis verkörpern die Arbeitnehmerorganisationen für viele längst nicht mehr Solidarität, sondern Exklusivität: die Exklusivität jener, die einen gesicherten Arbeitsplatz haben und daher für ein halbes Lohnprozent mehr zum Streik bereit sind. Das Bild vor allem der ÖTV stand zuletzt allzu häufig für Blockade, für Schwerfälligkeit, als „Besitzstandswahrer“ wurden die Gewerkschaften auch von den Grünen beschimpft.
Denn die Gewerkschaften können den moralischen Anspruch oft nicht mehr einlösen, für den sie angetreten sind: die Solidarität der Schwachen untereinander. Ein Kollektiv der gleich Schwachen gibt es nicht mehr, in der Arbeitswelt hat sich stattdessen eine neue, heimliche Rangordnung herausgebildet: die Rangordnung der Schwachen.
Es gibt die starken Schwachen und die schwachen Schwachen: Oben in der Hierarchie stehen die kündigungsgeschützten Arbeitnehmer in Großunternehmen, mit Betriebsrente und Sonderleistungen. Darunter werkeln die Kollegen mit befristeten Verträgen sowie die Teilzeitbeschäftigten. Schließlich hängen an vielen Dienstleistungsunternehmen etwa im Medienbereich zumeist noch Honorarkräfte, die sich häufig am Existenzminimum entlanghangeln.
Die alte Unterscheidung in Unternehmer und Beschäftigter reicht schon lange nicht mehr aus, um real erlebte Macht und Ohnmacht zu definieren. Die Entwicklung der Neuen Ökonomie hat das Problem weiter verschärft. Sind Existenzgründer, die leicht abstürzen können, stark oder schwach? Wer als Kleinunternehmer Pleite geht, hat Schulden, bekommt aber weder Arbeitslosengeld noch gewerkschaftliche Unterstützung. Statt der Kapitalisten und abhängigen Arbeitnehmer gibt es nur noch „Gewinner“ und „Verlierer“. Das aber passt nicht zum althergebrachten gewerkschaftlichen Solidaritätsgedanken. Darin begreifen sich die Mitglieder als gleich Schwache gegenüber den Stärkeren, den Arbeitgebern.
Wie aufgesetzt diese Solidarität oft wirkt, ließ sich in der Praxis beobachten, etwa bei Tarifverhandlungen und Warnstreiks in kleineren Zeitungen: Die befristet Beschäftigten legten sehr viel zögerlicher die Arbeit nieder als die dauerhaft Angestellten; freie Journalisten ärgerten sich über den Verdienstausfall; die Verlegerin klagte über die höheren Lohnkosten, die angeblich einen Stellenstopp erforderten. Die Solidarität der Beschäftigten blieb abstrakt.
Wer gewinnen oder einfach nur überleben will, kann mit dieser abstrakten Solidarität nichts anfangen, sondern braucht Verbindungen. Das „Netzwerk“ ist daher das neue Sinnbild für Gemeinschaften dieser ungesicherten Erwerbstätigen. Netzwerke sind Gemeinschaften aus Konkurrenten, die sich brauchen, etwa zum Austausch von Informationen, für Kooperationen, zum Aufstieg. Diese neue Solidarität ist ambivalent – und schnell wieder auflösbar.
Mit dieser ambivalenten, höchst eigennützigen Solidarität müssen die Gewerkschaften künftig umgehen, wollen sie überleben. Auch die 13 Fachbereiche von Ver.di müssen da mehr bieten. Man wolle künftig auch Freiberufler und Selbstständige ansprechen, hat der designierte Ver.di-Vorsitzende Frank Bsirske schon verkündet.
Die Zukunft also liegt in den Netzwerken – nicht nur zur rechtlichen Beratung, sondern auch zur Information unter Schwachen: In den USA etwa erfahren Besucher der Website www.fuckedcompany.com, welches Unternehmen demnächst Leute entlassen will, wer besonders miese Arbeitsbedingungen bietet. Auf manchen Websites von Internet-Initiativen stehen Jobangebote neben Infos über Firmen und deren Sozialverhalten. In der Informationsgesellschaft liegt in solchen Netzwerken vielleicht eine größere Chance für politischen Druck als in polternden Reden vor Massenversammlungen.
Doch das bedeutet die Loslösung vom alten Solidaritätsgedanken: dass nämlich ein möglichst großes Kollektiv der Schwachen den Einzelnen stark macht. Das war immer der utopische Überschuss, der Unterschied zwischen Gewerkschaft und ADAC. Was davon bleibt, ist die politische Frage. Die Sehnsucht nach kollektiven Lösungen wird nicht verschwinden, doch der neue Solidaritätsgedanke wird ambivalenter, weniger abstrakt sein. Irgendwann, erzählt Bartz, fingen die Chefs bei Pixelpark an, die Arbeitszeiten der Mitarbeiter zu kontrollieren. Die Aktienoptionen verloren gleichzeitig an Wert. Der Frust stieg. Einige Leute taten sich zusammen und gingen zu Bartz. Beschäftigte in anderen Unternehmen zogen nach. Ein Anfang war gemacht. BARBARA DRIBBUSCH
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