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Unglaublicher Herr Palomar

Welche Bücher ich gerne verlegen würde (5): Jörg Bong, Programmleiter der deutschsprachigen Literatur beim Frankfurter S. Fischer Verlag

1983 geschrieben, ganz nah, mitten im Heute, „Herr Palomar“, „nervöser Zeitgenosse, Bewohner einer hektischen und überfüllten Welt“, einer der letzten Texte von Italo Calvino – einer der genauesten Texte der Gegenwart und – so wunderbar angelegt und geordnet der Text narrativ auch erscheint – die gewaltigste Unordnung und Unruhe. Es ist die Veranstaltung einer vollkommenen Irritation. Ist es verlegerischer Antrieb, neue Literatur zu wollen, Texte einer ungestümen Neugier auf die sich umbrechende Welt, die Gegenwart, dann sind es Bücher wie dieses, die zu machen die größte Lust wäre. Früher hätte man gesagt: „vornehmste Pflicht“.

Eine Figur, der unglaubliche Herr Palomar, schreitet in 27 Geschichten die Welt ab, „wie sie ist, heute“ (in Städten, im Zoo, in Läden, auf Reisen, zu Hause, in Gesellschaft). Ausgestattet ist er mit der ganzen Erbschaft eines Wissens, das eine Kultur durch ihre ganze Geschichte und Geografie hindurch akkumuliert hat. Punktierungen sind es, die er vornimmt, Punktierungen der sozialen, natürlichen, biologischen Welt, die des gegenwärtigen Wissens und Denkens, unserer umfassenden Imagination der Welt, auch der avancierten Wissenschaften – einer Welt, in der nichts mehr so ist, wie es war, 2.000 Jahre lang: „ein ins Stocken geratener Mechanismus, der zuckt und knirscht in all seinen nicht geölten Gelenken, Vorposten eines wankenden Universums, ruhelos wie er selbst“. Selbstverständlich, ohne dies zu feiern, ist ihm kein Sinn, die Welt nur eine Lawine von simultanen Ereignissen, eine „Unzahl von Zufällen, Kombinationen, Permutationen und Konsequenzverkettungen“. Lange verinnerlicht hat er, dass die Gegenwart keinen metaphysisch dialektischen Zirkus irgendeiner Variante mehr erträgt. Das gegenwärtige menschliche Wissen und Können löst auf, „was der Mensch war“, was wir wussten und überhaupt: was und dass wir wissen konnten – und könnten. Und natürlich kennt Herr Palomar auch das semiotische Dilemma der Sprache, des Sprechens, die ihm selbstverständliche (De-)Konstruktion.

„Herr Palomar kommt weiter.“ Seine große Unternehmung, sein Zauberwort heißt – für die nächste Zeit – Wahrnehmung. Der ganze Text, der ganze Marsch des Palomar, dreht sich um die manische Arbeit der genauen Beobachtung, der kleinteiligen Betrachtung und minutiösen Aufmerksamkeit. Herr Palomar hat sich, am Anfang, am Ende, vorgenommen, die Welt noch einmal neu wahrzunehmen, selber nur Wahrnehmung zu sein und es dabei zu belassen: „entschlossen, lediglich zu beobachten, um das wenige, was ihm zu sehen gelingt, in den kleinsten Details zu beschreiben“. Und in der Beschreibung dann wiederum alles nur noch in einem flüssigen Zustand zu halten. Es ist eine Wahrnehmung nur noch von außen, denn innen ist außen: Das „Ich ist nichts anderes als eben das Fenster, durch das die Welt die Welt betrachtet. Ja, um sich selbst zu betrachten, braucht die Welt Augen: die Augen des Herrn Palomar.“ Das ist die schönste Geschichte, die uns Herr Palomar erfindet, die er sich erlaubt, eine Metapher der Perspektive – das wäre die Aktion, eine radikal literarische Aktion. Eine Erzählung, so Herr Palomar ad hominem, ist die genauste Betrachtung, die dichteste Beschreibung; Literatur hat, ob sie will oder nicht, die epistemische Arbeit am Hals. Doch auch das ganze Wahrnehmungsprojekt ist nichts Definitives, keine Substanz, keine neue Wahrheit. Wahrnehmung ist immer Krise, der „Effekt ein Schwindelgefühl“. Das Projekt ist „keine Leitlinie, aus der Herrn Palomar besondere Befriedigung ziehen kann, aber die einzige, die ihm im Moment praktikabel erscheint“.

Neue Wahrnehmungen zu schaffen ist das Vorgehen. Zehn Jahre nach „Herr Palomar“ erschien Gilles Deleuze’ verblüffendes „Kritik und Klinik“, gerade in Deutsch verlegt (eine Verblüffung, die die Widersprechung Moderne/Postmoderne präzise zu Ende bringt, scheinbar gegen alle und mit allen). Er schreibt: „Sprache besteht aus einem nicht-sprachlichen Sehen und Hören, das aber einzig von der Sprache ermöglicht wird. (...) Man sieht und hört durch die Wörter, zwischen den Wörtern hindurch. Von jedem Schriftsteller gilt: Er ist ein Sehender, ein Hörender.“

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