: Animierte Gräser und Steine
■ Steinunn Sigurdardottir und Gudbergur Bergsson im Literaturhaus Von Petra Schellen
Nicht, dass sie abergläubisch wäre. Nicht, dass sie ernsthaft über ein allmächtiges Schicksal nachdächte. Aber ein klein wenig keimt doch der Verdacht in ihr, dass sie etwas falsch gemacht hat, dass sie schuld ist an den finsteren Freunden ihrer pubertierenden Tochter.
Voller Selbstzweifel ist Harpa, die 31jährige Protagonistin in Herzort, dem neuen Roman der 51jährigen isländischen Bestsellerautorin Steinunn Sigurdardottir, die jetzt im Literaturhaus liest. In die Ostfjorde will die Mutter die Tochter verfrachten, einen letzten Rettungsversuch unternehmen, indem sie mit dem Mädchen zu Verwandten zieht. Denn wie vulkanische Eruptionen gestalten sich die Launen der 15jährigen, mit der die Mutter eine Hassliebe verbindet. Ambivalent steht Harpa auch ihrer eigenen, toten Mutter gegenüber, mit der sie wie selbstverständlich spricht; unsicher ist sich die kleine, dunkelhaarige Protagonistin ihrer eigenen Herkunft. Als wäre sie aus der Ahnenreihe gefallen, fühlt sich Harpa, niemals die Veränderung begreifend, die binnen eines Jahres mit der Tochter vor sich ging.
Aber die Seelenregungen der Tochter sind nicht das Entscheidende an dem teils holprig übersetzten Buch, das die Romanform immer wieder durch Gedichtzeilen aufbricht: Den Roman ihres eigenen Lebens will die Protagonistin schreiben, will jene unerzählten Geschichten finden, die Identität stiften. Wer ihr leiblicher Vater war, ist die nicht gestellte Schlüsselfrage, die ihr Selbstwertgefühl untergräbt, die Zweifel und Fremdheitsgefühle nährt. Doch langsam nähert sie sich reisend dem Ort, an dem sie von ihrer Mutter außerehelich mit einem Franzosen gezeugt wurde, gewinnt Selbstbewusstsein auf der Fahrt. Für Harpa ist es entscheidend, sich dem Rhythmus der Natur einzufügen, um das eigene Leben zu ordnen: „September ist nicht morgen, flunkern die Gräser“, sagt Harpa – froh und beunruhigt zugleich, weil die Natur den kalendarisch beginnenden Herbst noch nicht anzeigt. „Die Farben der Steine sind wärmer als die der Materie“, heißt es an anderer Stelle in dem nie zu pathetischen Buch. Und letztlich ist die Kenntnis von Stein- und Vogelnamen Teil ihrer Identität; eine Spur weit schimmert hier Pantheismus durch. Was dazu passt: Wirklich geborgen fühlt sich die Frau nur am Kindheitsort: „Kein Mann war emeine Jugendliebe, sondern ein Hof in einem Fjord“, sagt sie, deren Liebhaber an das, was ihr die Natur bedeutet, niemals heranreichten. Und dass sie ihr Traumhaus an der See nur bauen wird, wenn das Meer „okay“ sagt, versteht sich von selbst. Ein eindringliches Landschafts- und Seelenpanorama, das dem Kontinentaleuropäer eine Naturverbundenheit nahebringt, die ihm angesichts der aktuellen Missachtung von Tier- und Vogelindividuen gut bekäme.
Ob einem die Lektüre des zweiten im Literaturhaus präsentierten Buches, Liebe im Versteck der Seele des ebenfalls renommierten, 70jährigen isländischen Autors Gudbergur Bergsson, so gut bekommt, sei allerdings dahingestellt: Die pubertären Ergüsse eines verheirateten 40jährigen, der parallel eine homosexuelle Beziehung beginnt, sind Inhalt des Buches, das in gewollt dandyhaftem Wilde-Stil daherkommt.
Vom Sex, vom Lieben und von der Trauer handeln die endlosen Lamenti des Mannes, dessen Leben fortan nur noch aus Sich-Sehnen besteht. Zwischendurch gibt er pseudo-philosophische Phrasen von sich wie „Während ich versuchte zuzuhören, ergriff mich eine Niedergeschlagenheit, die ich mit der Unendlichkeit verbinde und von der ich glaube, dass sie in der absoluten Leere an einem unbekannt Ort im Weltall entstanden ist“. Anderswo finden sich Weisheiten wie „Sogleich begriff ich, dass der Zweck des Lebens höchstwahrscheinlich darin besteht, dass man andere sehen und mit ihnen reden kann“. Kann das ernst gemeint sein? Kann die Story, die in zunehmenden Egoismus samt Fixierung auf das jeweils nächste Treffen ausartet, für irgendjemanden von Interesse sein? Man könnte es glatt bezweifeln.
Lesung morgen, 20 Uhr, Literaturhaus
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