Exdissidenten in Prager Burg ratlos

Ein Zukunftsdialog über die Demokratie in Europa zeigt, dass der Kontinent sich noch immer in Ost und West spaltet – während mitteleuropäische Intellektuelle noch an ihrer Vergangenheit verdauen, wollen die Westler an der konkreten Utopie stricken

aus Prag SABINE HERRE

„Wir führen heute weniger transeuropäische Dialoge als vor 1989“, stellte etwa der französische Politologe Jacques Rupnik fest. Wohl die meisten der rund sechzig Teilnehmer der Konferenz „Die europäische Revolution und die Zukunft Europas“, die an diesem Wochenende im Ballsaal der Prager Burg stattfand, konnten ihm zustimmen.

Über Jahrzehnte hinweg hatten die Oppositionellen aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR mit ihren westeuropäischen Freunden über die Teilung des Kontinents gestritten, doch nachdem diese dann glücklich beendet worden war, konzentrierte man sich ganz auf den Aufbau des demokratischen Systems im eigenen Land.

Dies soll nun anders werden. Bezeichnenderweise waren es gerade zwei (west-)deutsche Organisationen, die die ehemaligen Dissidenten dazu aufriefen, neue Diskussionsimpulse zu liefern.

Aber vielleicht war die Initiative von Friedrich-Ebert- und Heinrich-Böll-Stiftung doch zu früh gekommen. Die „Prager Erklärung“ jedenfalls, die zum Schluss der Veranstaltung verabschiedet werden sollte, wurde nicht fertig. Und dies gleich aus mehreren Gründen.

Nach den Eröffnungsansprachen des tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel und des früheren ungarischen Präsidenten Árpád Göncz zeigte nämlich die eigentliche Debatte, dass die alte Teilung des Kontinents vorerst weiter besteht und nur etwas weiter nach Osten verschoben wurde.

Während die deutschen Teilnehmer – unter ihnen die Leiterin der Gauck-Behörde Marianne Birthler – die zukünftige Verfassung des vereinten Europas in den Mittelpunkt stellten, widmeten sich die Mitteleuropäer noch einmal ausgiebig ihrer Geschichte. „Wir wissen doch immer noch nicht, warum das kommunistische System so schnell zusammengebrochen ist“, stellte etwa der tschechische Senatspräsident Petr Pithart fest.

Auch über die historische Bedeutung der friedlichen Revolutionen selbst gab es Streit. Nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch unter den Westdeutschen. Mit der These von den „nachholenden Revolutionen, die keinen neuen Freiheitsweg zeigten“, provozierte der Berliner Sozialwissenschaftler Claus Offe, einige seiner Landsleute. Doch auch sie konnten nicht beantworten, was denn das Spezifische an diesen historischen Erfahrungen sei, das sich heute für die weitere Demokratisierung Europas nutzen ließe.

Und so geriet die Diskussion nicht selten auf Abwege. Sätze wie: „der Westen muss die Bedeutung der Dissidenten anerkennen, sonst verliert er das Verständnis für Demokratie“, klangen nicht nur überheblich, sondern schlicht überholt.

Ausgerechnet der slowakische Justizminister Jan Čarnogursky wies ein weiteres Mal darauf hin, dass der „Rechtsstaat allein nicht ausreicht. Er muss mit Werten ergänzt werden.“ Fast scheint es, als wollten die Dissidenten das, was ihnen nach 1989 im eigenen Land nicht gelang, die Entwicklung einer neuen Form der Demokratie, nun für die Europäische Union nachholen.

Vielleicht hätte es der Konferenz ja gut getan, ein paar Fachleute aus Brüssel einzuladen. Denn dort wird momentan darüber nachgedacht, wie die künftigen EU-Mitglieder an der Debatte über die Verfassung der EU schon vor ihrem Beitritt beteiligt werden können. So blieb es dem Franzosen Rupnik überlassen, die zukünftigen Konfliktlinien aufzuzeichen: Sind die Mitteleuropäer bereit, in der EU auf einen Teil der gerade wiedergewonnen Souveränität zu verzichten? Und vor allem: Wo verlaufen für die Mitteleuropäer die Grenzen der EU? An der Antwort darauf müssen die Exdissidenten nun noch basteln, in einer künftigen Prager Erklärung, die noch vor dem Laekener EU-Gipfel Ende des Jahres verabschiedet werden soll. Sonst wird sie dort keiner mehr anhören.