: Das Leck in der Erinnerung tastend ausgeleuchtet
■ Die finnischen AutorInnen Kristina Carlson und Mauri Antero Numminen im Literaturhaus
Wenn man die Splitter in der richtigen Reihenfolge beleuchtet, werden sie ein sinnvolles Muster ergeben. Wenn der mit dem Loch im Kopf seine Erinnerungsfetzen geschickt zusammennäht, wird sich sein Mörder ganz von selber finden. Aber ganz so einfach ist es nicht für Lennart, Hauptfigur von Ins Land am Ende der Welt, dem Erstlingsroman der finnischen Autorin Kristina Carlson, die jetzt im Literaturhaus liest.
Im Sibirien des 19. Jahrhunderts spielt die Geschichte eines Studenten, der – wie etliche andere – auf Kosten des Zaren das Land des Amur fruchtbar machen soll. Ambitionierte und Randfiguren findet der Finne Falk Lennart dort 1868 vor – und eine Goldgräberstimmung, die ihn zu Geschäften mit einer verheimlichten Kohlenmine verführt. Aus kontinentaleuropäischer Sicht abseitig ist das Thema, als Teil finnischer Vergangenheitsaufarbeitung notwendig. Zwischen Gedächtnismolekültheorie und mythisch überlieferten Verbindungen zwischen Lebenden und Toten bewegt sich die Autorin, wenn sie suggeriert, dass sich Marotten Verstorbener auf die Lebenden übertragen. „Lennart hat mir seine schmerzenden Zehen hinterlassen“, berichtet der Freund, der glaubt, „dass nach dem Tod die vom menschlichen Leib befreiten Atome umherschweben, auf der Suche nach einem Kraftfeld, an dem sie erneut festmachen und ihre Existenz fortsetzen können“.
Eine interessante Idee. Trotzdem könnte man den 1999 edierten Roman stärker respektieren, schiene es nicht, als ob Carlson ihre finnische Kollegin Leena Lander imitierte, die sich in den Romanen Der Schatten des Richters (1986) und Mag der Sturm kommen (1994) ebenfalls finnischer Historie widmet. Nur dass Lander nicht nur sprachlich stärker ist, sondern auch – und hier ist sie Carlson überlegen – Selbstironie und Entwicklung des Erzählers in ihre Texte flicht.
Und woraus wird noch gelesen am finnischen Abend? Aus Tango ist meine Leidenschaft des 61-jährigen Mauri Antero Numminen, in Finnland als Musiker und Filmemacher bekannt. Welche Kriterien zur Auswahl des Buches führten, dessen Litaneien über Finn-Tango allenfalls Fans interessieren, bleibt dunkel. Vielleicht die Kombination von Trash-Sprache und pubertärem Inhalt: Der Protagonist will aufgrund einer Wette, die er als 15-jähriger einging, bis zum 36. Lebensjahr Geschlechtsverkehr vermeiden, auch wenn es das Leben der Partnerin kostet. Gähn.
Petra Schellen
21. März, 20 Uhr, Literaturhaus
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