Immer diese Arbeiterklasse!

DAS SCHLAGLOCH
von MICHAEL RUTSCHKY

Ich kann nur empfehlen, jeder eigenen Unlust nachzugehen: Man stößt immer auf die Arbeiterklasse

Veronika und Jürgen Willmann, beide 56, aus Siemensstadt. Olle Trainingshosen hätten sie fast auseinander gebracht. Jürgen seufzt: „Nie wieder im Jogginganzug und meinen gemütlichen Schlappen auf die Straße! Aber ich hab’s ihr versprochen.“ Die beiden sind schon seit 19 Jahren zusammen. Aber heute ist ein besonderer Tag: Jahrelanges Bitten und Betteln von Veronika zeitigten Erfolg. Der Zankapfel wird feierlich der Mülltüte übergeben. Das ist wahre Liebe! B.Z., 19. 3. 2001

Was Jürgen Willmann und seinesgleichen die zeitlosen Jogginghosen (und Sweatshirts), das waren Veronika Willmann und ihresgleichen eine Zeit lang die modischen Leggings: dicke, undurchsichtige Strumpfhosen, gern mit psychedelischen Mustern bedruckt. Weil der Rumpf leicht ins Tonnenhafte inklinierte, trug man darüber weite Überfallblusen, ihrerseits gern heftig gemustert.

Was also macht die Arbeiterklasse? Sie zieht sich scheiße an. Genauer, sie zieht sich so an, dass es uns gründlich missfällt, wobei wir im Wesentlichen aus den Mittelschichten stammen, die sich unauffällig mit der Menschheit als solcher zu verwechseln pflegen. Wir wissen, was man anziehen darf; wir lassen – es herrscht ja glücklicherweise keine Kleiderordnung mehr – größte Toleranz walten. Aber was zu viel ist, ist zu viel.

Man kann dies Geschmacksurteil zu einem Erkenntnisinstrument ausbauen, das ziemlich genau anzeigt, was die Arbeiterklasse so treibt. Stets können wir sie am Werk sehen, wenn uns etwas missfällt, ja wenn wir einem gravierenden Schaden unserer Zivilisation auf der Spur sind.

Wer hat denn die Massentierhaltung mit ihren schaurigen Nebenfolgen zu verantworten? Richtig, die Arbeiterklasse, deren Appetit auf Fleisch als Nahrungsmittel das Marktgeschehen bestimmt. Und weil das proletarische Durchschnittseinkommen niedrig ist, darf das Fleisch nur wenig kosten – anhaltend schütteln sie die Köpfe, unsere Kommentatoren, weil die Fleischpreise im Unterschied zu anderen kaum stiegen. Kein Wunder, dass unsere besonders sensiblen Jugendkader zum Vegetarismus übergingen ...

Denn so ward das Fleisch wässrig und krank; Antibiotika und andere Gifte halten die Tiermassen künstlich gesund, damit die Arbeiterklasse einem Traum folgen kann, der sie seit den Armutszeiten leitet: jeden Tag Fleisch essen. Die Kinder der Arbeiterklasse sind auf Hamburger abonniert, und eine Zeit lang wussten wir genau, wie dadurch das Weltklima geschädigt wurde (Rinderherden statt Regenwälder in Südamerika).

Dass es die Leidenschaft der Arbeiterklasse für das Autofahren ist, der wir die Erwärmung der Atmosphäre und die drohende Klimakatastrophe verdanken, braucht kaum erwähnt zu werden. Statt sich gleich freudig für das Radfahren zu entscheiden, reagierte die Arbeiterklasse immer wieder bockig auf unsere Abstinenzforderungen. Unvergesslich der Wutanfall der Arbeiterklasse, als der frisch gebackene rot-grüne Senat Westberlins unter Walter Momper auf der Avus Tempo 100 einführte. Dass der Autokanzler Schröder die wiederkehrende Benzinpreiserhöhung via Ökosteuer verhindern will, überhaupt ein Auge auf bezahlbares Benzin hat, lehrt bloß, wie tief die SPD immer noch der Arbeiterklasse verhaftet ist, statt kompromisslos die Überlebensinteressen der Menschheit zu verfolgen.

Was der Massentourismus aus den Schönheiten der Schöpfung machte, spottet jeder Beschreibung. Ich sage bloß: Ballermann! Die Reisewut der Arbeiterklasse brachte überall am Mittelmeer die Bettenburgen hervor, die ihren Vorstadtsiedlungen daheim aufs Haar gleichen. Sie können sich gar nicht vorstellen, klagte mir vor Jahren eine Literaturkritikerin, was sie aus Gomera gemacht haben! Inzwischen reicht die Invasion bis in die Dominikanische Republik und auf die Malediven.

Der deplorable Zustand unserer Bildungsanstalten erklärt sich natürlich daraus, dass die Arbeiterklasse unterdessen ihren Nachwuchs unbedingt aufs Gymnasium und die Universität schicken muss. Das senkt das Niveau automatisch. Wie man ja auch am Privatfernsehen beobachten konnte, dessen ordinäre Veranstaltungen von Anfang an dem Geschmack der Arbeiterklasse huldigten. Konnte man zunächst der Love Parade in Berlin eine gewissen Überzeugungskraft nicht absprechen, so hat unterdessen die Arbeiterklasse daraus längst eines ihrer vulgären Spektakel gemacht. Viel zu viel Bier.

Und so weiter. Um der Tiefe und Weite des Problems innezuwerden, kann ich nur empfehlen, jeder Regung des Missfallens und der Unlust diesbezüglich nachzugehen. Über kurz oder lang stößt man unweigerlich auf die Arbeiterklasse, die sich in unserer Welt breit macht und sie deformiert (wie wir finden).

Sie muss es bald bemerkt haben, dass das nichts wird mit dem Sozialismus, den sie als Heer des Lichts beim letzten Gefecht gegen das Heer der Finsternis, die Bourgeoisie, erkämpfen sollte, wie ihr bürgerliche Intellektuelle mit so viel Feuer verkündeten. Der Parteiapparat bot (wenigen) die Möglichkeit zum (bescheidenen) sozialen Aufstieg – aber was die Massen interessierte, war der Konsumismus der USA und nicht der erstarrende Repressions- und Gerechtigkeitsapparat der UdSSR. Es schaut so aus, behaupte ich gern, als habe die Geschichte zweimal dasselbe Experiment unternommen, einmal in den USA, einmal in der Sowjetunion. Nur in den Vereinigten Staaten ist es gelungen. Sie sind die wahre Heimat der Arbeiterklasse, seit langem.

Unvergesslich der Wutanfall der Arbeiterklasse, als derBerliner Senat Tempo 100 einführte

Was die Mittelschichten angeht, insbesondere die Intelligenzija, so scheinen sie leider jedes Interesse am Proletariat verloren zu haben, seit es seine Interessen so entschlossen jenseits der marxistischen Vorgaben verfolgt. Eine junge Bildhauerin aus dem Osten – die, dank intelligentem Management, ihre Arbeiten glänzend verkauft –, reagierte, als ich ihr das Privatfernsehen als Errungenschaft der Arbeiterklasse erläuterte, typisch: Das sei doch nicht die wahre Arbeiterklasse, die sich dort amüsiere. Das wird die Intelligenzija der Arbeiterklasse vermutlich nie verzeihen, dass sie ihr nicht als sozialistischer Klerus dienen durfte, unmittelbar den Zwecken der Menschheit.

Aber darum ginge es auch gar nicht. Wir müssten – anlässlich unseres Missfallens – besser diese larvierten Formen von Klassenkampf beobachten lernen, in den uns das Proletariat auf den unterschiedlichsten Feldern so erfolgreich verstrickt, vom Rindfleisch über den Autosalon bis zu Vera am Mittag. Bevor er aus Westdeutschland nach Berlin zog, gestand mir einmal ein junger Dichter, wusste er gar nicht, dass er in einer Klassengesellschaft lebe.

In den Fünfzigern meinten die Soziologen, das Proletariat (und die Oberklasse) verschwinde in einer „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“. Man stellte sich die Operationen der Arbeiterklasse unweigerlich politisch vor, Gewerkschaftsforderungen, die Programme der SPD. Dass die Arbeiterklasse sich auf dem Feld des Konsums und der Kultur breit machen würde – ohne als Arbeiterklasse zu verschwinden –, war unvorstellbar. Wir müssen also nachsitzen.