: Widerstand und Rebellion
Eric Hobsbawm erinnert mit seinen Aufsätzen an die vielen von der Nachwelt vergessenen kleinen Leute – und überrascht mit brillanten Porträts von Count Basie, Sidney Bechet und John Coltrane
von RUDOLF WALTHER
Eric Hobsbawms neues Buch handelt von „ungewöhnlichen Menschen“ – gemeint sind freilich nicht Große und Mächtige, sondern Kleine und Vergessene. Sie bilden den Bezugspunkt aller seiner Arbeiten, denn dem Sozialhistoriker geht es immer um das Leben und das Schicksal der kleinen Leute. „Sie machen den Großteil der Menschheit aus“, aber „die ungeheure Herablassung der Nachwelt“ (so der verstorbene Historiker der Arbeiterbewegung E. P. Thompson) bestraft sie durch Vergessen oder durch Spott und Verachtung. Zu den beeindruckendsten Stellen in Hobsbawms sozialgeschichtlichen Aufsätzen gehören denn auch die Schilderungen einfacher Menschen wie des Arbeiters Herbert Smith (1862–1938) oder des unterschätzten Thomas Paine (1737–1809), der sich als Korsettmacher, Lehrer, Beamter, Tabakwarenhändler, Journalist und Erfinder durchs Leben schlug und meistens zu den Verlierern gehörte – trotz des Riesenerfolgs seines Buches „Die Rechte des Menschen“ (1791). Hobsbawm setzte dem unerschütterbaren Aufklärer mit einem Aufsatz schon 1961 ein verdientes Denkmal.
Dieser Aufsatz und 25 weitere Arbeiten hat der 83-jährige britische Historiker jetzt in einem Band zusammengestellt. Die Texte, die bisher zum größten Teil nur in Zeitschriften zugänglich waren, sind um drei Themen gruppiert. Im Zentrum steht Hobsbawms sozialhistorisches Spezialgebiet – die sozialen Bewegungen des politischen Radikalismus einschließlich der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Formen des Protests der Landbevölkerung. Daneben fokussiert eine zweite Gruppe von Aufsätzen Fragen der Zeitgeschichte, eine dritte befasst sich mit den Ursprüngen und der Bedeutung des Jazz. Die einzelnen Beiträge werden von kurzen Notizen zu ihrem Entstehungszusammenhang eingeleitet. So erfährt man, dass sich Hobsbawm nicht nur gelegentlich als Jazzkritiker profilierte. Der linke Historiker verdiente sein Geld sogar lange Zeit als Jazz-Publizist, weil ihm eine Stelle im Universitätsbetrieb versagt blieb. Im vorliegenden Band werden vorzügliche Porträts von Sidney Bechet („Der Caruso des Jazz“), Count Basie, Dizzy Gillespie, John Coltrane und Duke Ellington abgedruckt. Hobsbawm hat ein waches Auge für die sozialgeschichtliche Seite des Jazz und dessen Rezeption hier wie in den USA. Für ihn war und ist Jazz „immer eine Kunst für eine Minderheit“ und selbst in den USA nie eine „Massenkunst“. Ästhetisch wie gesellschaftlich handelt es sich beim Jazz – entgegen einem elitären Vorurteil – um eine rebellische Kunstform, die man ohne Umstände als Nonkonformismus bezeichnen kann.
Kein Historiker hat sich eingehender mit den Phänomenen von Widerstand und Rebellion beschäftigt als Hobsbawm. So finden sich auch in diesem Buch Themen wie „Die Entstehung der Arbeiterklasse“, die „Landbesetzungen durch Bauern“ in Peru oder die Frage, warum die Schuhmacher in gewerkschaftlichen und politischen Kämpfen zwischen der Französischen Revolution und der Pariser Commune immer zu den Radikalsten gehörten. Genau genommen ist die Frage mangels Quellen nicht beantwortbar. Aber der immens belesene Historiker tastet sich durch das spärliche Material und entwickelt daran plausible Hypothesen: Von allen handwerklichen Männerarbeiten war die Schuhmacherei und -flickerei die körperlich leichteste, da sie im Sitzen ausgeführt wurde. Deshalb waren viele Schuster von der Arbeit nicht so ermüdet wie etwa Bergarbeiter und waren imstande, sich nach der Arbeit lesend zu bilden. Nestroy karikierte den Schuhmacher als trinkfest, Hobby-Astronomen und Almanach-Leser. Die Schuhmacherwerkstatt bildete auf den Dörfern ein Kommunikationszentrum. Und je mehr Schuhmacher sich bildeten und den Leuten halfen, desto mehr wurden sie als arme Anwälte der Armen gesehen.
Zu den Verlierern in der Geschichte gehören die Maschinenstürmer, gegen deren Aktivitäten 1811–13 in England mehr als 11.000 Soldaten eingesetzt wurden. Hobsbawm analysiert die unterschiedlichen Motive und Zielsetzungen der Maschinenzerstörung, die man missversteht, wenn man sie als wahl- und kopflose Feindseligkeit gegen Maschinen überhaupt deutet. Manchmal ging es in diesen Auseinandersetzungen um „Tarifverhandlungen durch Ausschreitungen“: die Arbeiter wollten durch gezielte und begrenzte Aktionen Druck ausüben für Lohnerhöhungen oder Arbeitszeitverkürzungen. In anderen Fällen galt der Angriff nicht allen Maschinen, sondern jenen, „die Arbeiter arbeitslos machten“.
Zu den Glanzstücken des Bandes gehören ein Vergleich der „Arbeitertraditionen“ in Frankreich und England sowie eine Kurzgeschichte des Handwerks als ein „Drama in fünf Akten“, in dem der Weg des Handwerkers mit seinen spezifischen Traditionen, Formen der Selbstachtung und gesellschaftlichen Anerkennung zum Fabrikarbeiter prägnant beschrieben wird.
Hobsbawm hat sich nicht nur als Sozialhistoriker einen Namen gemacht, sondern auch als Publizist. In einem Aufsatz über den Guerillakrieg erörterte er den Vietnamkrieg und prognostizierte den USA bereits 1965, „dass sie sich in einem Krieg befinden, den sie nicht gewinnen können“ und in Südostasien scheitern werden wie drei Jahre zuvor die Franzosen in Algerien. Hier wie dort führten die Forderungen der Militärs nach „mehr Truppen, mehr Bomben, mehr Massaker“ in die Sackgasse und die Flächenbombardements lediglich dazu, „die einheimische Bevölkerung in ihrer Unterstützung der Guerillakämpfer zu bestärken“. In einem kleinen Essay über „Die Regeln der Gewalt“ analysiert Hobsbawm die Gegenwart in ihrer Widersprüchlichkeit: die meisten Menschen haben heute keine unmittelbaren Gewalterfahrungen, während mittelbar Gewalt in der Mediengesellschaft allgegenwärtig geworden ist. „Das erzeugt seltsam unwirkliche Erfahrungen“, die auch das Verhältnis der Bürger zu den Regeln, denen jede Gewalt unterworfen ist, eintrübt.
Hobsbawms Aufsätze und Essays zur Sozialgeschichte sind zum Teil vierzig Jahre alt. Die ältesten sind – nach dem aktuellen Forschungsstand – ergänzungsbedürftig, aber keinesfalls veraltet. Sozialgeschichte gilt momentan als „out“, aber die Haltbarkeit seiner Texte kontrastiert eindrücklich mit der Kurzlebigkeit von Modetrends und Schnellschüssen, die die Wissenschaftsszene heimsuchen und oft nur eine Saison überlebt.
Eric Hobsbawm: „Ungewöhnliche Menschen. Über Widerstand, Rebellion und Jazz.“ Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt, 424 Seiten, Hanser, München 2001, 49,80 DM
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