: Tod und Ernüchterung
Die britische Autorin A. L. Kennedy sucht den Moment der äußersten Kontrolle im Kontrollverlust: „Stierkampf“
„Wenn ich mehr Zeit hätte, glaube ich, würde es mir direkt Spaß machen.“ Der erste Satz in Alison L. Kennedys Buch über den Stierkampf ist Bekenntnis zu seinem Gegenstand: der Bessenheit vom Tod. Denn das Ich, das hier beinahe Spaß hat, sitzt barfuß im vierten Stockwerk auf einem Fensterbrett. Das Wetter ist schön. „Ich bin eine Autorin, die nicht mehr schreibt, und das macht mich zu einem Niemand.“ Gleich will sie hinabspringen, um sich zu töten. Sie tut es nicht. Gerade als sie springen will, hinunter in den stillen, sonnigen Sonntagnachmittag, fängt eine quäkende Stimme an zu singen – ausgerechnet den meistgehassten Kelten-Folksong „Mhairis Wedding“. Gegen das Unangemessene des Elends fährt das Leben den allerunangemessensten Soundtrack auf, einen, der dem Freitod Würde, Schönheit, Pathos stiehlt. Auf sonderbare Weise vertragen sich das Banale und Peinliche prächtig mit dem Leben – und hier zumindest gut genug, um der zum Selbstmord Entschlossenen einen Strich durch die Rechnung zu machen.
So fängt es an. Lauert hinter der ersten Überraschung das reine Klischee – die Trias Stierkampf, Schönheit, Tod? Natürlich. Doch zumindest ist die schottische Schriftstellerin kein Aficionado, kein Fan des rituellen Stieretötens. Sie akzeptiert es vielmehr als zufällig hereingeschneites Thema eines Auftragswerks, in der vagen Hoffnung, die Versenkung in eine fremde Kultur, die Meditation über den Tod, die Beschäftigung mit einer Praxis, die sich auf der Schwelle vom Profanen zum Heiligen vollzieht, könnten Lebensüberdruss, Glaubensverlust und Selbstverachtung auf einmal kurieren. Also zieht sie sich nicht völlig hinter der kulturwissenschaftlichen Abhandlung zurück, durch die sich „Stierkampf“ (engl.: „On Bullfighting“) tarnt, und bleibt dennoch diskret, ja scheu. Der Prolog ist die einzige Passage, in der Kennedy sich rückhaltlos und buchstäblich weit aus dem Fenster lehnt; später huscht sie fast gestaltlos graumäusig durchs Bild, wenn sie depressiv und rückenleidend Zug fährt, ausgerechnet eine Ochsenschwanzsuppe löffelt, mit Kamera und Notizblock ausgerüstet in der Arena sitzt.
Systematisch und akribisch, mit Fußnoten und Glossar, doch stets in unschlagbarem Plauderton (den Ingo Herzke wieder sehr schön ins Deusche übertragen hat) arbeitet sich Kennedy durch die Stierkämpferei. Die Schilderung der aufwendigen Kostümierung zum Kampf, von den Goldstickereien bis zur ausgestopften Lendenregion, kostet einige Seiten, und bevor der Leser endlich in den hochkomplexen, symbolgeladenen Ablauf der corrida eingeweiht wird, diskutiert Kennedy bestechend ausführlich, dass Stierkampf weder Sport noch Kunst (corridas werden im Feuilleton besprochen!), sondern ein „religiöses Ritual im Übergangsstadium“ sei, das die Endlichkeit des Lebens zu begreifen versuche und das Überleben feiere. Und zwischendurch Ernüchterung: „Die puya besteht aus einer scharf geschliffenen, stählernen Vierkantspitze von 29 mm Länge, dahinter 30 mm umwickelter Vierkantstahl und schließlich eine Querstrebe, die verhindern soll, dass die Lanze zu tief eindringt“ – nun ja. Hin und wieder gerät auch die luzideste Beschreibung allzu dicht.
Zum Schluss die Kür. Tatsächlich dokumentieren die letzten beiden Kapitel – virtuose, minutiöse, in aller höchst genauen Sachlichkeit um Worte ringende Kampfreportagen – die Unmöglichkeit, Kontrolle über den Tod zu erlangen: Auf der Ebene des Beschriebenen scheitert elegant „El Juli“, jugendlicher Starmatador in Madrid. Er setzt zwar den Todesstoß, wird dabei aber schwer verletzt. Auf der Ebene der Verdichtung erliegt, ebenso brillant, A. L. Kennedy. Der entscheidende, paradoxe, das ganze Buch hindurch gesuchte und nur ganz zu Anfang gefundene Moment äußerster Kontrolle im Kontrollverlust – in dem der Matador sich mit dem Ziel, den Stier zu töten, bewusst in Todesgefahr begibt – entgleitet, bleibt schwarzer Fleck, im toten Winkel. In ihrem letzten auf Deutsch veröffentlichten Roman, „Gleißendes Glück“, ließ die Autorin ihre Heldin Mrs. Brindle den „Glauben“ in einem finalen, paradiesischen Liebesakt wiederfinden. „Stierkampf“ schließt solche Volten der Fantasie aus. Wahrscheinlich ist deshalb auch die kleine Souvenirstatue, die sie aus Spanien mit nach Hause bringt und die rescate (Erlösung) heißt, unterwegs zerbrochen. Doch danach hat Kennedy trotzdem ein sehr persönliches Buch geschrieben.
EVA BEHRENDT
A. L. Kennedy: „Stierkampf“.Aus dem Englischen von Ingo Herzke.Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2001,160 Seiten, 32 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen