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Paul Parin, der Aufrührer

Ein Experte des Wechselspiels zwischen Kultur und Psyche

von GABRIELE GOETTLE

Paul Parin, Dr. med., Dr. h. c., Ethnopsychoanalytiker, bis 1990 psychoanalytische Privatpraxis. 1934 – 1937 Stud. d. Med. a. d. Karl-Franzens-Univ. i. Graz, 1937 – 1938 Stud. d. Med. i. Zagreb, 1938 Forts. d. Med. Stud. a. d. Univ. Zürich, 1943 mediz. Staatsexamen u. Promotion z. Dr. med. (Die Abdominaltuberkulose im Kindesalter). 1943 – 1944 Assist. i. d. Chirurgie d. Ospedale Civico, Lugano. 1944 Teilnahme a. d. 1. Chirurgischen Mission d. Centrale Sanitaire Suisse b. d. Jugoslawischen Befreiungsarmee. 1946 – 1952 Spezialis. z. Neurologen u. Ausb. i. d. Psychoanalyse (b. Prof. Rudolf Brun). 1949 Mitgl. d. Intern Psychoanal. Verein., Sekt. Schweiz. 1952 – 1990 Spezialarzt f. Neurol., Eröffnung s. psychoanalytischen Privatpraxis i. Zürich, gemeins. m. d. Psychiaterin Goldy Matthèy u. d. Psychiater Fritz Morgenthaler. 1954 – 1971 sechs Forschungsreisen n. Westafrika, gemeins. mit Goldy Matthèy u. F. Morgenthaler, Begründ. u. Entwickl. ihrer Ethnopsychoanalyse als wiss. Methode. 1958 Mitbegr. d. Psychoanalyt. Seminars i. Zürich (PSZ), dort bis 1983 Lehrtätigkeit. 1967 – 1970 Präsident d. Schweiz. Ges. f. Psychoanal. Zahlr. wissensch. Veröff. u. Publikationen, u.a. „Die Weißen denken zu viel. Psychoanalytische Untersuchungen bei den Dogon in Westafrika“ zus. m. Goldy Parin-Matthèy u. F. Morgenthaler, Zürich 1963; „Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst. Psychoanalyse und Gesellschaft am Modell der Agni in Westafrika“, zus. m. G. Parin-Matthèy u. F. Morgenthaler, Ffm. 1971; „Der Widerspruch im Subjekt. Ethnopsychoanalytische Studien“, Ffm. 1978, „Subjekt im Widerspruch“, zus. m. Goldy Parin-Matthèy, Ffm. 1986; „Das Bluten aufgerissener Wunden. Ethnopsychoanalytische Überlegungen zu den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien“, in: Aufrisse, 13,3, Wien 1992. Erzählungen u.a. „Karakul“, Hamburg 1993, „Der Traum von Ségou“, Hamburg 2001. Ehrungen u. Preise: u. a. Literaturpreis des Kantons Zürich 1986; Preis d. internat. Erich-Fried-Gesellschaft f. Sprache u. Literatur, Wien 1992; Sigmund-Freud-Preis f. wissensch. Prosa, Dt. Akademie f. Sprache u. Dichtung, 1997 Darmstadt; Internationaler Sigmund-Freud-Preis d. Stadt Wien, 1999. Ehrendoktor (Dr. phil. h. c.) d. Univ. Klagenfurt 1995. Dr. med. Paul Parin geb. 1916 als Schweizer Staatsbürger in Polzela (i. heut. Slowenien), verheir. m. d. Psychoanalytikerin Goldy Matthèy (b. z. i. Tod 1997), keine leiblichen Kinder, 1 erw. Wahl-Sohn.

Ethnopsychoanalyse ist, knapp gesagt, die Anwendung der psychoanalytischen Methode auf die Ethnologie, ihre Verbindung miteinander. Sigmund Freud selbst hat mit seiner Arbeit „Totem und Tabu“ bereits 1912 diese Verbindung vorgedacht. Es folgten verschiedene Ansätze in Europa und Amerika, psychologisch orientierte Untersuchungen anderer Kulturen zu entwickeln, was einer Revolution gleichkam, denn die älteren Völkerkundler untersuchten zwar akribisch fremde Kulturen, Völker, Stämme, aber fast ausschließlich in der herkömmlichen wissenschaftlichen Weise, rein quantitativ. Personen oder gar Individuen kamen allenfalls kurz und rein als Informatoren zu Wort. Die Ethnopsychoanalyse hingegen legte gerade auf das persönliche Wort großen Wert, auf Gespräch und Erzählung. Was dabei herauskam, geht über vergleichende Studien weit hinaus. „Erst die Ethnopsychoanalyse hat eine Theorie des Subjekts mit dem bestehenden Wissen um die verschiedenen Kulturen zu einem neuen Wissen vom Menschen und seinen so vielfältigen Lebensformen und -möglichkeiten verbunden.“ (P. Parin). Das Dreigestirn Paul Parin, Goldy Matthèy und Fritz Morgenthaler, allesamt beteiligt, hat Pionierarbeit geleistet. Sie waren innerhalb des deutschsprachigen Raums die ersten Psychoanalytiker, die bei ihren Feldforschungen in den 50er- und 60er-Jahren die psychoanalytische Technik als Forschungsmethode erprobt, angewandt und ausgewertet haben. Mit ihren ethnopsychoanalytischen Studien bei den Dogon und den Agni in Westafrika haben sie nachgewiesen, dass die Psychoanalyse sich auch zum Verständnis fremder Kulturen eignet, und – was ganz besonders wesentlich war – es hat sich der vergleichende Blick zwischen der eigenen und der fremden Kultur entscheidend verschärft, das Verständnis vertieft.

Der Ansatz des Züricher Dreigestirns unterschied sich von anderen Ansätzen in Europa und Amerika dadurch, dass man die Psychoanalyse als Konfliktpsychologie verstand, als Instrument zur differenzierten Betrachtung und Analyse gesellschaftlicher Strukturen. Die Rolle des Psychoanalytikers verstand man als subversive, gesellschaftskritische Tätigkeit, als Wühlarbeit (Parin), als das Aufrühren des Unbewussten (Goldy Matthèy). Folgerichtig wurden ihre ansonsten eher nur in Fachkreisen wahrgenommenen Arbeiten mit einem Schlag berühmt. Die 68er-Bewegung feierte sie als Instrumentarium der Gesellschaftskritik, man teilte die Leute entsprechend ihrer Eigenschaften und Auffälligkeiten in Dogon und Agni ein, man verwies auf die Möglichkeit anderer, freierer Formen und Beziehungen zwischen Individuum und Gesellschaft. Dieser Ansatz von Parin und seinen Mitstreitern hat unmittelbar mit deren Auseinandersetzung mit Faschismus und Nationalismus zu tun und mit der von ihnen gehüteten Tradition und Verbindung marxistischer und psychoanalytischer Theorie.

Paul Parin ist eine Art Saurier. Hinter und neben ihm sind Reiche und Republiken zusammengebrochen. Politische Haltung und wissenschaftliche Arbeit entstanden in diesem Kontext, wurden durch ihn ebenso geprägt wie durch ein seltsames Aufwachsen nach zweijähriger Fixierung im Gipsbett. Die Beobachtungsgabe lag in der Familie und hatte bereits dabei geholfen, ein exorbitantes Familienvermögen zu begründen. Der Großvater soll als junger Mann und Speditionsgehilfe nach fünfjährigem Schweizaufenthalt mit seinen Ersparnissen unter dem Hemd nach Triest zurückgekehrt sein und dort am Hafen zufällig eine entscheidende Beobachtung gemacht haben. Bei strömendem Regen wurde die Ladung eines brasilianischen Kaffeefrachters gelöscht. Die Bohnen verschimmelten auf der Weiterreise und kamen verdorben in Wien und Budapest beim Empfänger an. Der Großvater errichtete eine trockene Lagerhalle, sorgte für schützendes Segeltuch und gab die Garantie, den Kaffee in tadellosem Zustand auf die Weiterreise zu bringen. In wenigen Jahren beherrschte er den gesamten Kaffeetransport der Monarchie, gründete ein Netz von Versicherungsgesellschaften, eröffnete zahllose Bierbrauereien und finanzierte die Gasbeleuchtung der Städte. Seinen ältesten Sohn ließ er in England erziehen, den jüngsten, Parins Vater, in einem Genfer Knabeninstitut.

Eine weit reichende Entscheidung war der eher nebensächliche Kauf des Schweizer Bürgerrechts 1899 in einem Tessiner Dorf für 500 Franken. Damit waren alle Nachkommen automatisch Schweizer. Die Söhne, assimilierte Juden, wurden Lebemänner, Auto- und Ballonfahrer, Großwildjäger und Trophäensammler in Indien und am oberen Nil. Parins Vater bekam wegen zunehmender Blässe ein Landgut in Slowenien gekauft, ein ehemaliges Dominikanerkloster aus dem 15. Jahrhundert. Es wurde von einem Verwalter geführt, diente primär zu Erholungszwecken und nach der Verehelichung des Vaters mit einer ebenfalls reichen Frau aus jüdisch-großbürgerlicher Familie als fester Familiensitz. Hier, auf Novikloster in Polzela, wo Mitteleuropa und der Balkan aneinanderstoßen, kam 1916 Paolo Giulio Fortunato Parin, genannt Paul, als Großgrundbesitzersohn auf die Welt. Novikloster lag bis 1918 in K. u. k.-Österreich, dann im Königreich Jugoslawien, ab 1945 in der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien und nach 1992 in der Republik Slowenien. Hier wuchs Paul Parin auf, zusammen mit einer älteren Schwester und einem jüngeren Bruder. Die Familie lebte standesgemäß mit Jagd und Gesellschaften, von den Erträgen aus Vermögen, Hopfenanbau, Wald, Viehwirtschaft, Fischerei und von der Arbeit landloser Tagelöhner.

Die Kinder wurden von österreichischen Hauslehrern unterrichtet und von Schweizer Gouvernanten erzogen. Der Vater war liberal gesonnen, Republikaner und unerbittlicher Patriarch. Seine Kinder hatten intelligent, gebildet und wohlerzogen zu sein, hatten sich zügig zu entwickeln und dann zur Universität zu gehen – das wurde kommentarlos vorausgesetzt. Parin erzählt: „In Zagreb an der Universität habe ich in der Früh Sport gemacht, bin geritten, habe Tennis gespielt, am Nachmittag besuchte ich die Zentralbibliothek – ein wunderschöner Jugendstilbau –, dort habe ich in deutscher Sprache all die marxistischen Klassiker gelesen und auch die Schriften von Sigmund Freud, danach war ich bis zwei Uhr nachts mit Freunden und Künstlern zusammen.“ Derart vorbereitet brachte er nachts Flüchtlinge in Sicherheit und nahm 1938 sein weiteres Medizinstudium in Zürich auf. 1941 flohen Parins Eltern vor den Deutschen in die Schweiz. Auf Novikloster hauste die Gestapo, bis es von Partisanen in Brand gesetzt wurde. Parin sagte dazu 50 Jahre später: „Die Schlösser in der Gegend haben mir drei Mal im Leben Freude bereitet: als Kind, als ich in einem solchen Schloss aufwuchs, als die Schlösser endlich angezündet wurden, und heute, wo sie mit Kunstverstand renoviert werden.“

1939 lernt er Goldy Matthèy kennen: 1911 in Graz geboren, Tochter einer wohlhabenden und später verarmten Schweizer Familie. Sie kam gerade zurück aus dem Spanischen Bürgerkrieg, wo sie bei den Internationalen Brigaden das Zentrale Laboratorium der Sanitätsdienste organisiert hatte. Sie baute in Zürich ein kleines hämatologisches Labor auf, von dem in den folgenden Jahren drei Personen lebten: sie, Paul und ihr Bruder, der mit Paul Medizin studierte. Paul Parin bewunderte die selbstständige und unerschrockene Frau sehr. Auch er wäre gerne nach Spanien gegangen: „Aber bei den Internationalen Brigaden konnten sie Medizinstudenten nicht brauchen, auch keinen Kämpfer, der hinkt – ich habe immer gehinkt, das ist mir geblieben von meiner angeborenen Hüftluxation.“ 1944 ergriffen Paul und Goldy die Gelegenheit, für ein Jahr als Freiwillige nach Jugoslawien zu gehen, wo sie auf der Seite der Partisanen das Zentralspital betreuten, Paul Parin arbeitete als Wiederherstellungschirurg. Nach Kriegsende kehrte Goldy neuerlich nach Jugoslawien zurück, anfangs ohne Paul, um mit den in der Schweiz gesammelten Geldern gemeinsam mit Fritz Morgenthaler und anderen die Poliklinik Prijedor in Nordbosnien aufzubauen. Aus dieser Zeit rührt die lebenslange Freundschaft und Zusammenarbeit dieser drei zentralen Personen.

Morgenthaler wurde 1919 geboren, der Vater war ein bekannter impressionistischer Maler, die Mutter Hebamme und eine berühmte Puppenmacherin. Morgenthaler schloss 1945 sein Medizinstudium ab und machte, ebenso wie Paul Parin und Goldy Matthèy, eine psychoanalytische Ausbildung, nach deren Beendigung er in die gemeinschaftlich eröffnete psychoanalytische Privatpraxis in Zürich eintrat. Die drei Freunde betrieben sie fast ein ganzes Leben lang, machten gemeinsame Forschungsreisen (später zusammen mit Morgenthalers Frau), sie diskutierten, schrieben und publizierten gemeinsaam ihre Forschungsergebnisse. Neben der Ethnopsychoanalyse galt Morgenthalers wissenschaftliches Interesse der psychoanalytischen Theorie der Sexualität, insbesondere der männlichen Homosexualität. Außerdem war er ausgebildeter Jongleur und ein hervorragender Maler. Morgenthaler starb 1984. Goldy Parin verstand sich nicht nur auf Röntgenassistenz, Psychoanalyse und Blutbild, sie hatte auch eine Ausbildung als Keramikerin und konnte zur Gitarre die verschiedensten Chansons und Partisanenlieder singen. Sie starb 1997. Paul Parin konnte reiten, und das Schießen lernte er als Knabe von einer lesbischen Gräfin, er konnte mit Pferdegespannen und Kutschen umgehen, er konnte pflügen, wusste eine Menge über Landwirtschaft, Viehzucht und die Herstellung von Bier.

Um 15 Uhr sind Elisabeth und ich mit ihm verabredet. Er wohnt an der stark befahrenen Uferpromenade des Zürichsees nahe der Oper in einem gediegenen, alten Mietshaus aus hellem Sandstein. Eine polierte Messingtafel neben der Eingangstür weist auf die Praxis von Dr. med. Parin hin, an der Wohnungstür im Erdgeschoss stehen auf dem Schild noch alle drei Namen: Parin, Morgenthaler, Parin. Ich klingle, wenig später ist durchs geriffelte Milchglas hindurch schemenhaft eine sich nähernde Person zu erkennen. Die Tür öffnet sich weit, und vor uns steht in leicht schräger Haltung ein zartgliedriger Greis, der uns mit formvollendeter altösterreichischer Höflichkeit begrüßt. Zu unserer Erleichterung schlägt diese bereits an der Garderobe in unbefangene Herzlichkeit um. Herr Dr. Parin geleitet uns ins Arbeitszimmer. Er hinkt auf dem rechten Bein, bewältigt den unentwegten Höhenunterschied aber mit einer derart rhythmischen Geschmeidigkeit, dass man es für seine persönliche Art des Gehens hält.

Die Wohnung ist von erstaunlicher Größe, es gibt sieben oder acht Zimmer, die vom breiten Flur abgehen. Später, weit nach Mitternacht, werden wir herumgeführt. Das alte Parkett ächzt, in jedem Raum liegt es in einem anderen Muster. Überall ist Afrika präsent in Form von Wandbehängen, Ahnenfigürchen, Tierplastiken, vermischt mit anderen Erinnerungsstücken und Kunstgegenständen vorwiegend aus unserer Kultur. Man hat aber nicht den Eindruck, dass hier trophäenartig Beute präsentiert wird, alles wirkt viel eher so, als wäre es, hätte es selbst entscheiden können, freiwillig mitgekommen. In der Küche sind zwei Wände bedeckt mit Fotos, Zeitungsausschnitten, Zeichnungen, Briefen, Objekten verschiedenster Art, Erinnerungen. Paul Parin deutet auf dieses, auf jenes, hauptsächlich möchte er aber den Namen Goldy, so oft es geht, erwähnen. Leid Tragende sind wie Liebende. 1952 eröffneten sie die Praxis, das Paar zog gemeinsam ein. 1955 erst heirateten sie, 45 Jahre lebten sie hier zusammen. Die Wohnung trägt die Spuren des lebhaften Gebrauchs, der von ihr gemacht wurde.

Das Arbeitszimmer war ehemals Analysezimmer. Auf der ehrwürdigen Couch nehmen wir Platz. Bauhausschreibtisch und Bauhausstühle sind alt und stehen beiläufig da, ebenso wie die mechanische Schreibmaschine und das schwarze, monströse, alte Telefon mit den vielen Umschaltknöpfen, mit denen man zu ebensolchen Apparaten in den anderen Zimmern verbinden kann. Ein Foto von Goldy Matthèy hängt an der Wand, im Bücherregal eine afrikanische weibliche Holzskulptur, auffallend zwei Gemälde von Morgenthaler. Das größere zeigt eine afrikanische Savannenlandschaft mit angedeuteten Zebras und nur zu ahnendem Raubtier, expressiv und mit sicherer Hand gemalt, reduziert und flächig in gebrochenen Fliederfarben, grünlich und ocker. Daneben hängt klein eine Radierung von Goya mit geflügteltem Ross. Die Tapete ist vergilbt und passt im Ton sehr schön. Auf dem Tischchen vor uns liegt eine Packung Gitanes ohne Filter zwischen mehreren Aschenbechern. In jedem ein chromfarbener Zigarettentöter.

Paul Parin zündet sich eine Zigarette an, er bläst den Rauch in die Luft und sagt mit bisher nicht erlebter Offenheit: „Unterbrechen Sie mich, wenn es notwendig wird, denn erstens habe ich so viel Material im Kopf, und zweitens weil ich so alt bin ...“ Wir versprechen es. „Also, ich erzähle Ihnen ein bisschen etwas zur Entstehung der Ethnopsychoanalyse, die wir ja nicht erfunden, sondern als Methode erstmals praktisch erprobt haben. Es kam mehr durch einen Zufall. Wir drei wollten immer schon sehr gerne nach Afrika, das war ein Kindheitstraum. Und wir hatten einen Freund in Afrika, Heinrich Neumann, der uns eines Tages einlud. Er war Deutscher und als politischer Emigrant in die Schweiz gekommen, hatte hier eine Ausbildung als Chirurg gemacht und wurde nach Ablauf von elf Jahren ausgewiesen – das entspricht noch heute der polizeilichen Praxis. Er war staatenlos, Linker, militant areligiös, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als für die Basler Mission, eine altehrwürdige Einrichtung, in ein Missionsspital nach Afrika zu gehen. Wir beschlossen, ihn zu besuchen. Wir sind mit einem ausrangierten Militärjeep durch die Sahara bis Westafrika gefahren. Es war eine Vergnügungsreise, touristisch, wenn man so will, und ich hatte vor, eine ganz kleine Forschungsarbeit bei ihm zu machen, eine psychosomatische Sache, das ging aber nicht, weil das Labor dort gar nicht so leistungsfähig war, wie ich dachte. Und so entdeckten wir, dass es viel leichter ist, mit dem Hospitalpersonal ein psychologisches Gespräch zu führen, als dort psychosomatisch zu forschen. Nach dieser Reise haben wir damals zwei Dinge beschlossen. Erstens, dass wir wieder nach Westafrika fahren wollen, und zweitens, dass wir die Ethnologie studieren. Im Selbststudium haben wir uns das Wesentliche angeeignet und sind dann im Abstand von einigen Jahren immer wieder nach Afrika gefahren, insgesamt waren es sechs ethnopsychoanalytische Reisen.“

Paul Parin steckt seine Kippe in den Zigarettentöter und fährt fort: „Bei den ersten beiden Reisen haben wir das gemacht, was man auch einfühlende Beobachtung nennt, wir haben auffallende Verhaltensweisen gesammelt, systematisiert und mit Hilfe einer vergleichenden charakteranalytischen Untersuchungstechnik – orientiert an Wilhelm Reich – psychoanalytisch ausgewertet. Die Untersuchung umfasste damals noch eine Vielzahl von Angehörigen verschiedener traditioneller Gesellschaften und Kulturen Westafrikas, bei späteren Reisen haben wir uns dann ganz auf eine überschaubare Gruppe konzentriert. Unsere ersten Ergebnisse waren so interessant, dass uns das zu weiteren Reisen ermuntert hat. Wir waren uns natürlich klar darüber, dass unser Bezugssystem ein sehr spezielles und natürlich willkürliches war, dass die persönlichkeitsformenden Konflikte von Kultur zu Kultur verschieden sind und wir unvermeidlich als abendländische Menschen beobachten. So haben wir probeweise verschiedene mögliche Funktionsweisen der menschlichen Psyche beschrieben und nicht ausgeschlossen, dass einige davon in unserer Kultur vielleicht weniger ausgebildet wurden, selten auftreten beziehungsweise unentdeckt geblieben sind, während sie bei anderen Völkern als ausgesprochen wichtige Funktionen eine Rolle spielen ...

Das waren also die beiden ersten Reisen in den 50er-Jahren. Erst bei der dritten Reise – 1959/60 zu den Dogon – haben wir dann die Psychoanalyse als ein soziologisch-psychologisches Forschungsinstrument angewandt, als Ethnopsychoanalyse. Der Ausdruck stammt übrigens nicht von uns, sondern von Georges Devereux, einem ungarischen Emigranten. Ich kannte ihn ganz gut, er war Ethnologe und hat dann eine Analyse bei Géza Róheim gemacht, der wiederum war Geograf, Ethnologe und Psychoanalytiker, hatte seine Analyse bei Sándor Ferenezi gemacht und musste Ende der 30er-Jahre in die Vereinigten Staaten emigrieren ... Ich sage das nicht abschweifend, sondern um bei dieser Gelegenheit darauf hinzudeuten, wie sehr die Psychoanalyse und auch die Ethnopsychoanalyse von Emigration und Exil in Mitleidenschaft gezogen wurden. Wir drei hatten als Schweizer Bürger das Glück relativer persönlicher und wissenschaftlicher Kontinuität.“

„Auf die dritte Reise hatten wir uns besonders gut vorbereitet, es gab 156 Publikationen, davon stehen einige dort im Regal, die dunkelgrünen Bände ...“ Herr Parin deutet auf einen halben Meter Bücherrücken, „die haben wir studiert, ohne auch nur eine Ahnung davon bekommen zu haben, was uns für Menschen begegnen würden. Nicht eine einzige Person war darin als handelndes, denkendes, fühlendes, sprechendes Subjekt beschrieben, geschweige denn vorgestellt. Und weil wir also derart gut vorbereitet waren, haben wir beim Schweizerischen Nationalfonds einen Beitrag beantragt, rein symbolisch, denn wir haben, um unabhängig zu sein, alle unsere Forschungsreisen selbst finanziert, wir beantragten also bescheidene zehn Perzent. Es ist uns nicht gelungen, dem Hirnphysiologen, der damals den Nationalfonds dirigierte, nahe zu bringen, was Ethnopsychoanalyse ist. Er schickte uns einen Soziologen, der hat das zwei Stunden lang geprüft, dann haben wir das Geld bekommen und fuhren nach Mali zu den Dogon. Für uns war das wunderbar, die Psychoanalyse wieder zu befreien aus ihrer Medizinalisierung – sie fungierte ja weit gehend nach dem Zweiten Weltkrieg nur noch als angewandte Psychotherapie –, sie wieder zum wissenschaftlichen Studium des Menschen zu verwenden. Und es hat funktioniert! Statt, wie beim Heilungsprozess, ICH zu schaffen, wo ES war, haben wir versucht, ICH zu erkennen, das sich in einer ganz anderen Weise als bei uns aus dem ES entwickelt. Wir machten einstündige psychoanalytische Exploration mit Einzelpersonen, pro Person bis zu 40 Sitzungen. Es war anfangs schwierig, wir verzichteten vernünftigerweise auf einige unserer Riten – es ist uns später dann in Fachkreisen vorgeworfen worden, dass wir die Analysanten nicht liegend, sondern sitzend explorierten, und besonders, dass wir sie bezahlten – uns ging es aber hauptsächlich ums Gelingen. Die Verfremdung war auch so geradezu vollkommen. Die notwendige Distanz des Analytikers – auch zu sich selbst – war durch die gegenseitige Fremdheit ja ausgesprochen begünstigt.“

Paul Parin lächelt hintergründig und zündet eine Gitane an: „Und daraus ist dann das Buch entstanden ‚Die Weißen denken zu viel‘. Es war eigentlich ein Rapport, anfangs wenig beachtet, dann bei der 68er-Studentenbewegung so eine Art Kultbuch. Und wir haben die psychoanalytische Technik auch wieder 1966 in der Feldforschung bei den Agni an der Elfenbeinküste angewandt. Im Unterschied zu unserer Untersuchung der Dogon, bei der ja die Einzelperson und ihre psychische Struktur im Zentrum unseres Interesses stand, haben wir uns bei den Agni besonders für die Wechselwirkung zwischen individuellen und gesellschaftlichen Strukturen interessiert. Wir wollten das Individuum im Rahmen seiner Kultur transparent machen und damit gleichzeitig – das war ein wichtiges Ziel unseres Forschungsziels – einen Beitrag zum Verhältnis der Psychoanalyse und Sozialwissenschaften leisten. Es ging uns ja immer auch um eine Gesellschaftstheorie. Daraus entstand dann das Buch ‚Fürchte deinen Nächsten wie dich selbst‘, Suhrkamp hat es damals herausgebracht, auf Vermittlung von Alexander Mitscherlich. Unser Lektor übrigens, der dann zu unserem Freund wurde, war der kürzlich leider verstorbene Karl Markus Michel. Wir nannten ihn ja immer nur Carlos, er war ein 68er-Intellektueller und hatte den schönsten Maxi-Mantel von ganz Frankfurt. Das Buch jedenfalls erschien dann sehr schön und enorm teuer für damalige Verhältnisse, es kostete 60 Mark. Meiner Ansicht nach ist dieses das viel bessere Buch, weil wir zu diesem Zeitpunkt wesentlich mehr wussten als 1960. Aber es war nicht so beliebt, denn die Agni sind nach europäischem Geschmack unsympathische Menschen, die Dogon dagegen sind wahnsinning sympathisch.“

Während wir gemeinsam in der Küche frischen Tee zubereiten und einen Kuchen anschneiden, den eine Dame vor einiger Zeit als Geschenk mitbrachte, erzählt uns Paul Parin vom Unterschied zwischen den Dogon und den Agni. „Der Gegensatz war erheblich, nicht nur was die matrilineare Sippenordnung der Agni und die patriarchale Großfamilie der Dogon betraf. Die Agni sind Bewohner des Regenwaldes, die Dogon leben in der trockenen Steppe, während die Agni mit Fremdarbeitern Kaffee und Kakao in Plantagenwirtschaft für den Weltmarkt produzieren, sind die Dogon Subsistenzbauern, pflanzen Hirse an und verkaufen nur wenig auf den einheimischen Märkten. Sie sind Heiden mit einer reichen, eigenartigen, festen mythisch-religiösen-ökonomischen Sozialordnung. Die Agni hingegen sind Christen mit heidnisch-animistischen Elementen. Dass ihre Vorfahren Beutekrieger waren, mit hoch organisierten, aggressiven Königreichen, spielt auch für das heutige Leben der Plantagenbesitzer eine dominante Rolle. Bei den Agni werden alle sozialen Leistungen fast ausschließlich über das Mittel des Zwangs, der Furcht und der Strafe erreicht. Bei den Dogon werden soziale Leistungen freiwillig erbracht, die Dogon kennen Zwang als politisches oder pädagogisches Mittel nicht. Das sind in etwa die Unterschiede, deren jeweilige Auswirkungen wir detalliert beschrieben haben in unseren Büchern.“

Später im Arbeitszimmer sagt Paul Parin: „Aus Altersgründen haben wir dann unsere Feldforschung in die eigene Ethnie verlegt. Unsere Fähigkeit, strapaziöse Reisen zu machen und fremde Sprachen auch nur oberflächlich zu lernen, war so zurückgegangen ... Die Methode, mit Hilfe der Psychoanalyse kulturtypische Konflikte zu erkennen – wie wir es bei den Dogon lernten –, hat sich auch in den komplexen Verhältnissen industrialisierter Staaten und kapitalistischer Wirtschaftsform bewährt. 1980 habe ich begonnen, Erzählungen zu schreiben, und seit 1990, dem Zeitpunkt, als wir die psychoanalytische Praxis endgültig aufgegeben haben, habe ich die Schriftstellerei intensiviert, gerade ist übrigens ein neuer Erzählband herausgekommen.“ Er greift zur blauen Zigarettenschachtel. Leicht bläst er den Rauch davon. „Wir waren immer Kritiker der „Mainstream-Psychoanalyse“, besonders da, wo sie die von Freud begründete psychoanalytische Kritik der Zivilisation vernachlässigt und ignoriert, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse tief ins Seelenleben der Individuen einprägen. Dem haben viele Kollegen widersprochen. Sie sind für schmerzlose Anpassung. Aber die Psychoanalyse ist nicht als Reparatur und Anpassungsmethode gedacht! Und ich bedauere sehr, dass sich in kaum einer der neueren theoretischen Schriften noch ein Hinweis findet auf das subversive Potenzial, auf die Lust bereitende, Konventionen sprengende Kraft der sexuellen Triebe, denn das ist genau so falsch wie damals bei den 68ern die Erhebung der Triebtheorie von Wilhelm Reich zu einer Verhaltensnorm – auch dann in der Kindererziehung. Die Triebtheorie ist ja eine Arbeitshypothese eigentlich. Heute muss ich sagen, dass nicht nur dieser Umgang mit der Sexualtheorie damals kurzschlüssig-kindlich war – das lag an einem Missverständnis der Psychoanalyse –, es wurde leider auch die gesellschaftspolitische Sprengkraft der Psychoanalyse überschätzt. Auch von uns. Wir haben daran gearbeitet. Das war unser Motiv. Ich würde sagen von mir, ich war und bin ein undogmatischer Sozialist, Goldy war eine moralische Anarchistin – wir waren beide übrigens nie in einer Partei –, bevorzugten ein anarchistisches Gesellschaftsmodell mit möglichst wenig institutioneller Macht. Utopie? Wir haben auf keine gehofft, wir haben sie beobachtet.

Paul Parin, Der Traum von Ségou. Neue Erzählungen. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 2001, 250 S., 38 DM

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