: Magier, Maus und Monster
aus Moskau KLAUS-HELGE DONATH
So leicht macht ihm das keiner nach. Ein Jahr führt Kremlchef Wladimir Putin inzwischen die Amtsgeschäfte, und das Volk hält weiterhin unverdrossen zu ihm. Murren ist im sonst recht meckerfreudigen Riesenreich kaum zu vernehmen. Im Gegenteil, letzte Umfragen bescheinigen dem Präsidenten einen Vertrauensbonus von 70 Prozent, Tendenz steigend.
Eigentlich hat der allseits Beliebte im letzten Jahr nicht viel erreicht. Sein Volk erinnert sich vor allem an den Untergang des Atom-U-Boots „Kursk“ als wichtigstes Jahresereignis. Wladimir Putin machte damals keine gute Figur. Tage verstrichen, bis der Präsident im August seinen Urlaub auf der Krim abbrach und sich der Öffentlichkeit und den Angehörigen der Opfer stellte. Auch die Ursache der Katastrophe ist bis heute nicht bekannt und wird wohl bewusst verschwiegen. Dennoch trauen die Russen keinem Politiker mehr als WWP – Wladimir Wladimirowitsch Putin. Frauen wählten ihn gar zum „sexiest man 2000“ in Russland. Er trinke und rauche nicht, treibe Sport und liebe Frau und Kinder. „Was willst du mehr?“, erklärte eine Wählerin stellvertretend für viele. „Ich habe Angst vor ihm – also begehre ich ihn“, gestand eine jüngere. Nach dem senilen Boris Jelzin, der sein Amt überraschend Ende 1999 niederlegte und den unbekannten ehemaligen Geheimdienstchef zum Nachfolger erkor, sitzt ein Mann im Kreml, in dessen kühler Aura sich die Russen sicher fühlen. Allen voran Frauen, die den vielen Möchtegern-Machos – wenn schon, denn schon – einen vermeintlich echten vorziehen. Patriarchat und Paternalismus sind in Russland beileibe nicht verpönt. Sie müssen nur halten, was sie versprechen . . .
Das Rezept Hoffnung
Anscheinend erfüllt Putin diese Kriterien. „Er hat den Russen Hoffnung gegeben“, erklärt Meinungsforscher Juri Lewada. Seit zwanzig Jahren seien sie erstmals wieder stolz auf den ersten Mann im Staat. Dank seiner Hilfe haben sie den Minderwertigkeitskomplex abgelegt und wieder zu mehr Selbstbewusstsein gefunden. Kleinigkeiten und Gesten reichten aus. Selbst der wie geplant geglückte Mir-Absturz rief noch einmal stolze Erinnerungen an die „Weltmacht im All“ hervor. Zwar konnte Putin Russlands frühere tatsächliche Weltmachtgeltung nicht zurückerobern, aber Moskau ist auch keine Lachnummer mehr wie in den letzten Jahren Boris Jelzins.
Kurzum: Putins Erfolg gleicht einem Lehrstück, wie der Geist – im einstigen Labor des Materialismus – über die Materie siegt. Das heißt – nicht ganz. Die hohen Ölpreise und der ausgeglichene Staatshaushalt erleichterten dem Präsidenten das Regieren und Verteilen, ohne einschneidende Reformen und eigenes Zutun. Daher ist immer noch nicht klar, in welche Richtung Putin Russland lenken will.
Die Signale sind zwiespältig. Ist er ein Magier, eine Maus oder ein Monster, rätselten Beobachter beim Amtsantritt. Inzwischen dürfte klar sein: Von allem hat er etwas. Ein Magier in Sachen Volksseele, eine ängstliche Maus, wenn es um Reformentscheidungen geht, und ein düsterer Zeitgenosse, sobald er den Tschetschenienkrieg als Friedensmission verkauft und die Drangsalierung unabhängiger Medien – wie den Fernsehsender NTW der Media-Most-Gruppe – als konsequente Umsetzung rechtsstaatlicher Erfordernisse beschreibt. Bisher gibt es nur einen ausgewiesenen „Putin-Weg“, und der befindet sich in der kleinen Stadt Isborsk im Gebiet Pskow, wo die Stadtverwaltung nach einer Visite zu Ehren des Staatschefs flugs einen Pilgerpfad eröffnete.
Ansonsten herrscht Unklarheit. Die im Sommer von Wirtschaftsminister German Gref angekündigten Reformen sind bisher nicht verwirklicht worden. Die Schaffung eines funktionierenden Bankensystems lässt auf sich warten. Gesetze, die Privateigentum und Investitionen besser schützen sollten, liegen nur im Entwurf vor. Der Vorstoß, Grund und Boden zum Verkauf freizugeben, endete vorläufig im Niemandsland. Die Gemeindereform, die den Staatshaushalt entlasten und Verwaltungen zu effektiverem Wirtschaften zwingen sollte, kam nicht vom Fleck. Nur in der Steuerpolitik verbesserte der Staat die Rahmenbedingungen. Worauf wartet Putin? Mit 70 Prozent Zustimmung im Rücken könnte er auch einige unpopuläre Maßnahmen treffen, zumal er mit der handzahmen Duma über willfährige Gesetzgeber verfügt.
Statt zu handeln, erteilte er indes dem neu geschaffenen – aber funktionslosen – Staatsrat, dem Vertreter der Regionen angehören, den Auftrag, ein Entwicklungsprogramm bis 2010 zu entwerfen. Die Federführung hat der kommunistische Abgeordnete und Ökonom Sergej Glasew. Es unterscheidet sich erheblich vom liberalen Entwurf der Gruppe Gref. Eingeweihte behaupten, die Verzögerung habe technische und rechtliche Ursachen, keine politischen. Ist die Strategie 2010 nur als Beschäftigungstherapie gedacht? Oder hat die alte sowjetische Hymne, die Putin im Dezember dem Land verordnete, mehr als nostalgische Bedeutung? Im Westen würde es der Präsident verneinen, zu Hause erfährt es niemand.
Das Rezept Verzögerung
Putin zaudert aus verschiedenen Gründen. Ihm fehlt nicht nur eine Vision, er fürchtet auch klare Entscheidungen. Mit keinem möchte er es verderben. Das würde den Konsens gefährden, auf dem das Phänomen WWP fußt. So vermied er es, den Konflikt zwischen Verteidigungsministerium und Generalstab zu lösen. Auf der Strecke blieb die dringend notwendige Armeereform. Zu Beginn der Regentschaft blies der Präsident zum Blitzkrieg gegen die selbstherrlichen Gouverneure der Provinzen. Er entriss ihnen Kompetenzen und entfernte sie aus dem Oberhaus des Parlaments. Er setzte ihnen sieben neu ernannte Supergouverneure in der Rolle von Kremlstatthaltern vor die Nase: auf Herz und Nieren geprüfte Vertraute des Herrschers, dessen Arm den letzten Winkel des Reiches erreichen sollte. Das Ganze drapiert als Reformprogramm; Motto: „Straffung der Machtvertikale“ und „Diktatur des Gesetzes“. Die unmissverständliche Botschaft: Alle Macht dem Kreml.
Ein halbes Jahr danach sehen die Dinge schon wieder anders aus. Die draufgesattelte zentrale Bürokratie ist mit sich selbst beschäftigt, die Gouverneure huldigen von Zeit zu Zeit dem Fürsten, lassen sich sonst aber nicht stören. Autokratische Republikspotentaten in Tatarstan und Baschkirien schlugen gar das Recht auf eine dritte Amtszeit heraus. Und der entmachtete Gouverneur von Wladiwostok Jewgeni Nasdratenko wurde für Versagen und kriminelle Amtsführung mit dem lukrativen Posten des Fischereiministers abgefunden.
Ausmisten? Reformen? Kaum. Halbfertigprodukte sind bislang Markenzeichen der Ära Putin. Die Schwäche des Kreml – egal wie martialisch er sich auch gebärden mag – erhält zumindest die Pluralität der Eliten. Ein Marsch zurück in Diktatur oder Autoritarismus droht daher nicht. Selbst eine „formierte Demokratie“ dürfte den Kreml auf Dauer überfordern. Schwer werden es weiter die Protagonisten einer zivilen Gesellschaft in Russland haben. Denn sie passen nicht zum Putinschen Primat vom starken Staat, dem der Präsident wohl vergeblich bis zum Ende seiner ersten Amtsperiode hinterherjagen wird.
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