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Ultravioletter Todesreigen

Klamaukig und staubig: Molières „Eingebildeter Kranker“ mit Vater und Sohn Haußmann am Thalia Theater  ■ Von Petra Schellen

Was soll man heute tun mit einer Komödie aus dem 17. Jahrhundert? Wie eine 1673 uraufgeführte Molière-Farce spielen – wenn nicht wie klamaukiges Ohnsorg-Theater? „Man kann natürlich das ewig Gleiche nachspielen“, hatte Regisseur Leander Haußmann vor der Premiere von Molières Eingebildetem Kranken am Thalia Theater gesagt. Genau das schätze er aber am wenigsten – jenes konservativ orientierte Publikum, das „immer wieder dasselbe sehen will“.

Jedoch – exakt diese Gelüste befriedigte Haußmann über weite Strecken mit seiner Molière-Inszenierung: Er ließ den Hypochonder, gespielt von Haußmanns Vater Ezard – minettigleich als selbstmitleidigen, semisympathischen Sturgreis auftreten, der in einer bronzenen Sterbepyramide kauerte. Zusammengekauert saß der Alte – Embryo oder Pharao? – in seiner Wanne, belauerte sich auf der stetigen Suche nach Krankheitsherden – und bot dem laut gelächternden Publikum jede Chance, sich wiederzufinden.

Damit konnte es aber eigentlich nicht getan sein im karnevalistisch-prunksitzungsverdächtigen Spiel inclusive Wanne-Umkippen und Zungen-Melanom-Untersuchung vorm Spiegel. Und es reichte auch nicht, dass Haußmann den Schauspielern enorme Freiräume gegeben hatte und Textwiederholung und -vergesslichkeit als Krankheitssymptom definierte: „Das hab ich doch gerade schon mal gesagt. Hab ich Alzheimer?“ rief Argan triumphierend ins Publikum. Kokett verfremdend wirkte auch der Riesenaufruhr, den die Ärzteschaft vor der Pause unter Einbeziehung eines Zuschauers veranstaltete, dem zur Argan-Wiederbelebung schnell ein paar Liter „Blutgruppe A“ abgezapft wurden.

So weit, so slapstickartig – und so unzureichend auch die zweite Hälfte des Spiels, da sich Haußmann nicht zwischen Ernst und Komik entschied: Zerfasert wirkten die zwischen Spannung und Klamauk kippelnden Totstell-Szenen Argans und seiner Tochter Angélique (Sylvia Schwarz); außer Lächerlichmachung des Molière-schen Textes, etwa im Kloster-Wahn Angéliques, war dem Regisseur wenig eingefallen.

Als eindimensionale Franzosen-Karikaturen kamen auch der Arzt Diafoirus (Hartmut Schories) und sein maskenhaft-machohafter Sohn Thomas (Andreas Pietschmann) daher, ohne dass der Grund der Umdeutung klar geworden wäre. Planeten blieben sie trotz individueller Charakterstärke alle, den kranken Tyrann umkreisend, dem nur die Dienerin Toinette (Hildegard Schmahl) Paroli bot.

Über die Grundschwierigkeit einer Molière-Inszenierung anno 2001 konnten all diese Kunstgriffe allerdings nicht hinwegtäuschen: die Tatsache nämlich, dass der medizinische Grunddisput, der – als Streit zwischen Argan und seinem Bruder Béralde (Dietmar König) – das Stück trägt, heute so nicht mehr relevant ist: Längst bekannt ist inzwischen die Beschaffenheit des 1619 entdeckten Blutkreislaufs, lange widerlegt die im 17. Jahrhundert verfochtene aristotelische Idee vom Klistieren als Allheilmittel.

Entsprechend überholt klangen Béraldes Bemerkungen, man solle stoisch auf die Selbstheilungskräfte der Natur vertrauen. Ein sauber in These und Antithese gegliederter, seinerzeit Montaigne nachgestalteter Disput lässt sich daraus heute nicht mehr flechten; zu überholt sind die damals aktuellen Querelen, von Molière noch sozialkritisch in Szene gesetzt.

Da half es Haußmann auch nicht, den Offensiv-Obstesser Béralde als Allergiker aufzubauen, der an seiner eigenen Therapie zugrunde geht. Auch damit, dass jede Figur wahnhaft ist – am originellsten noch der zum Hanswurst verkommene Angélique-Liebhaber Cléante (Peter Jordan): Aus seiner Kruste geholt hat Haußmann das Stück trotz gelegentlicher „Pflegeversicherung“-Einwürfe Einzelner nicht. Real in die Gegenwart herübergerettet hätte Haußmann den ohnehin veränderten Molière-Text, wenn er die Figuren nicht bloß Arzthörigkeit hätte demonstrieren lassen, sondern sich konkreten Ängsten etwa vor Krebs oder Aids zugewandt hätte. Oder wenn Argan und Béralde über Embryo-Forschung und Gentherapie gestritten hätten.

Wenn es dann noch gelungen wäre, all dies in so poetische Szenen zu gießen wie den (ultra?-) violetten Tanz des zum Arzt mutierten Argan mit dem Skelett zu „Yellow submarine“-Gesängen über unser kollektives Wahnsinnsboot: Das wäre eine echte Entstaubungsleis-tung gewesen.

Weitere Vorstellungen: 17., 18. April, 20 Uhr, Thalia Theater

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