: Ein Kotzbrocken auf zwei Rädern
In Jean-Pierre Sinapis Film „Uneasy Rider“ hat auch der Behinderte im Rollstuhl das Recht, ein Arschloch zu sein
Den Totalitarismus des staatlichen Pflegewesens hat Jack Nicholson schon in „Einer flog über das Kuckucksnest“ vergeblich zu unterminieren versucht. In seiner Apparatekritik steckte natürlich auch einiges an Orwell’scher „Big Brother“-Paranoia aus Ken Keseys Romanvorlage. Dessen Polithippie-Radikalismus hatte ihm in den 60ern selbst Klinikaufenthalte beschert.
Eine Schwäche des Films liegt auch darin, für die Herleitung der These eine plastische Projektionsfläche konstruieren zu müssen (Louise Fletcher als Schwester Stalin war sicher eine Idealbesetzung). Doch blendet die Fixierung eine Vielzahl von bürokratischen und politischen Kräfteverhältnissen aus. Die berechtigte Frage, wer „normal“ und wer „krank“ ist, stellt da nur die Spitze des Eisbergs dar.
In Jean-Pierre Sinapis „Uneasy Rider“ dagegen entblößt sich der Bürokratenapparat in seinem ganzen kleinkarierten und heuchlerischen Ekel. Andererseits zeigt Sinapi, wie tief die Verlogenheit nicht nur im System, sondern auch in den Menschen steckt. Der renitente Kotzbrocken, der den Reflex seines unmittelbaren Umfeldes auf seine Behinderung mit aggressivem Zynismus kontert, verdient da automatisch unsere Sympathie.
René, der „Uneasy Rider“, für den ein breiter Türrahmen schon alle Freiheit der Welt bedeuten kann, terrorisiert seine Mitbewohner bis an den Rand der Erschöpfung. Seine cholerischen Ausbrüche bleiben die einzigen Lebenszeichen in den gleichgeschalteten Tagesabläufen innerhalb seines überschaubaren Mikrokosmos, eines Heims für Körperbehinderte.
Renés Problem ist jedoch nicht der Rollstuhl, sondern die Unfähigkeit seiner Mitmenschen, ihn als eigenständiges Gegenüber zu begreifen. Es geht um die Utopie, als „normal“ anerkannt zu werden; und um das Recht, ein Arschloch genannt zu werden. Was ihn unterscheidet von den Bürgerlichen, die sich um die Verletzung ihrer Privatsphäre sorgen, wenn er in seinem Rollstuhl vor ihrem Gartenzaun entlanggerollt wird, ist letztlich doch nur ein ordentlicher Fick, für den René nach einer Prostituierten sucht. Lust und Wirklichkeit werden zur Frage von Beinen oder Rädern. Darum muss er sich mit billigen Supermarktpornos begnügen, und selbst die stehen unerreichbar in den oberen Regalreihen.
Sinapi trifft die Ambiguität der menschlichen Verhaltensformen dramaturgisch exakt. Er erzählt mit lakonischem Unterton von der Bigotterie der „Gesunden“ und ihrem ekelhaften Mitleid und suggeriert gleichzeitig mit der DV-Kamera genau dieses Gefühl von ehrlichem Verständnis, das stets behauptet, aber nie wirklich geleistet werden kann. Die Kamera klebt mit direkten, unruhigen Bildern an den Behinderten, in der Hoffnung auf eine emotionale Unmittelbarkeit, die in der Realität immer wieder an der eigenen Schamschwelle scheitern muss.
Mittlerin zwischen Kritik und Institution ist die junge Pflegerin Julia. Sie ist die utopische Gestalt, mit der die Symptome im Anstalts-Gemeinwesen diagnostizierbar werden. Dass sich für Sinapi aber allein in den Diskrepanzen von „Lust und Wirklichkeit“ der ganze institutionelle Frust zeigt, ist letztlich eine ziemliche Katastrophe. Indem er die Aggressionen Renés auf sexuelle Frustrationen zurückführt, stellt Sinapi gleichzeitig ein Erlösungsmodell in Aussicht, das zum guten Ende alle Parteien wieder befrieden kann. Insofern gilt für „Uneasy Rider“: Sex ist schon okay, lenkt aber vom Wesentlichen ab. ANDREAS BUSCHE
„Uneasy Rider“. Regie: Jean-Pierre Sinapi. Mit Nadia Kaci, Olivier Gourmet u. a., Frankreich 1999, 90 Min.
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