: Protest um fünf nach zwölf
Ehemalige Zwangsarbeiter fordern vor dem Kanzleramt sofortige Entschädigung
BERLIN taz ■ Die Erinnerungen, die Mario Bertorelli an Deutschland hat, sind düster. Im Viehwaggon verschleppte ihn die SS 1944 aus dem italienischen Piacenza. In einem schleswig-holsteinischen Kaliwerk musste er sieben Tage die Woche schuften. Die giftigen Dämpfe verätzten seine Haut, der 74-Jährige leidet noch heute an einer Angstneurose. Entschädigung für die Zwangsarbeit hat er nie erhalten.
Nun ist Bertorelli erstmals wieder nach Deutschland gekommen. Einen Tag vor der USA-Reise des Kanzlers rollten frühere Zwangsarbeiter gestern vor Gerhard Schröders Amtssitz in Berlin Plakate aus: „Fünf nach zwölf. Wir gehen dazwischen“. Ihre Forderung: sofortige Auszahlung der Entschädigungen an frühere NS-Zwangsarbeiter. Ziel der Aktion ist es, so Lothar Evers vom Bundesverband NS-Verfolgter, den Überlebenden wieder eine Stimme zu geben. „Ich fordere den Kanzler und den Bundespräsidenten auf, mit mir zu reden“, sagte Bertorelli.
Die Politiker kamen nicht, dafür aber Wolfgang Gibowski, der Sprecher der Stiftungsinitiative der Wirtschaft. Er sei zufällig vorbeigekommen und wolle „die Leute informieren“. Vor der Zahlung müssten alle Klagen gegen deutsche Firmen erledigt sein.
Doch die Opfer wollen nicht mehr warten. 6.000 Mark haben Berliner Schüler gesammelt. Schon vor sechs Wochen wollten sie der Stiftungsinitiative die Summe als Darlehen überreichen. Gestern kam die Antwort: „Nein“, sagte Gibowski, „ich werde das Geld nicht annehmen.“ Aus rechtlichen Gründen sei es unmöglich, das „Darlehen“ der Schüler anzunehmen. „Ich könnte das Geld nur in die Schreibtischschublade legen.“ Es liege bei der amerikanischen Justiz, Bewegung in die Entschädigungsfrage zu bringen.
US-Richterin Shirley Kram hatte es vergangene Woche erneut abgelehnt, die letzte große Sammelklage gegen deutsche Banken abzuweisen – obwohl die Wirtschaft ihren Fondsanteil von 5 Milliarden Mark nun nach eigenen Angaben beisammenhat. Kram hatte auf ungeklärte Ansprüche aus dem österreichischen Bankenvergleich verwiesen. Die Stiftungsinitiative kündigte gestern an, sie werde gegen das Urteil in Berufung gehen. Die Demonstration, glaubt auch Gibowski, finde am falschen Ort statt. „Sie müsste vor dem Gericht in New York stattfinden.“
Die Wirtschaft wolle das Problem offenbar biologisch lösen, sagt Kurt-Julius Goldstein vom Internationalen Auschwitz-Komitee. Rund 10 Prozent der früheren Zwangsarbeiter stürben pro Jahr: „Was die deutsche Wirtschaft mit den Zwangsarbeitern macht, ist Massenmord.“
Vergeblich versuchten Zwangsarbeiter und Schüler gestern, persönlich bei der Stiftungsinitiative vorstellig zu werden. Vor dem Haus der Wirtschaft, in dem die Initiative ihren Sitz hat, endete die Aktion. Alle Argumente, befand Sprecher Gibowski, seien ausgetauscht. NICOLE MASCHLER
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