: Selbst ist der Chef
Die Firmenpatriarchen sind tot – es lebe die Selbststeuerung der Beschäftigten? Schön wär’s. Denn das Ziel gesteigerter Produktivität gebiert ständig neue Managementstrategien
von BEATE WILLMS
Das Rezept ist einfach: Nicht zu viele eigene Ideen, keine Vorkenntnisse voraussetzen und keine Ironie, denn ein Buch über das richtige Management ist eine ernste Sache. Seit Tom Peters und Robert Waterman, Exmitarbeiter der Beratungsorganisation McKinsey, mit „Auf der Suche nach Spitzenleistungen“ in den Achtzigerjahren den Trend lostraten, haben Hunderte von Unternehmensberatern, Psychologen, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftlern und Managern ihre Erfolgsrezepte unters Volk zu bringen versucht. Mit Erfolg: Die Bestsellerlisten sind voll von Managerliteratur.
Im Januar präsentierte die Wirtschaftswoche gar eine Umfrage, nach der 61 Prozent der Befragten die früheren „Nieten in Nadelstreifen“ nun sympathisch finden. Acht Jahre zuvor waren es nur 38 Prozent.
Seit dem Beginn von Führungsforschung, Betriebswirtschaftslehre und Industriesoziologie haben sich Produktionskonzepte und betriebliche Organisation immer schneller verändert. Heute sind Manager nicht mehr die wenigen Auserwählten, die sich in den Führungsetagen tummeln. Mit dem echten oder scheinbaren Abbau von Hierarchien verliert die Unterscheidung von Führung und Beschäftigten an Bedeutung.
Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war die Trennung eindeutig. Die Muster, nach denen Industrieunternehmen geführt wurden, gingen von einer „natürlichen Herrschaft“ aus. Noch um 1900 hieß es in Fabrikordnungen: „Jeder Arbeiter hat sich treu, fleißig, ehrlich und sittlich zu führen; er ist seinem Arbeitsherrn und seinen Vorgesetzten stets sofortigen und widerspruchslosen Gehorsam schuldig.“ Oft griff der Unternehmer in die Privatsphäre seiner Beschäftigten ein. Im – normalen – negativen Fall konnte das völlige Entmündigung bedeuten, im positivsten aber auch soziale Sicherung –, etwa wenn der Fabrikant Arthur Krupp in Berndorf Brausebäder, eine Zahnklinik und Schulen bauen ließ, in denen die Kinder seiner Fabrikarbeiter zu „sauberen und gebildeten Arbeitern“ erzogen werden sollten.
In der fordistischen Fabrik galt der Mensch zwar vor allem als Produktionsfaktor, der sich an die maschinellen Arbeitsabläufe anzupassen hatte. Noch wichtiger war Henry Ford aber, dass niemand unter den Beschäftigten und den Managern eigene Entscheidungen gegen ihn treffen konnte. Er wollte nicht, dass Ingenieure mit Verkäufern redeten, und setzte Spitzel gegen die eigenen Leute ein.
Vor diesem Hintergrund kann man sogar der Rationalisierung bei Frederick W. Taylor einen humanen Aspekt abgewinnen. Taylor untersuchte die Arbeitsschritte, um den optimalen Ablauf zu finden, und erleichterte damit dem Manager zu erkennen, ob jemand seine Arbeit gut machte. Der Beschäftigte war zwar fortan einem vermeintlich gut begründeten Akkorddruck ausgesetzt, aber er erhielt immerhin auch Leistungskriterien und somit erstmals eine gewisse Handhabe gegen die Willkür seiner Vorgesetzten.
Der Slogan „Demokratie macht vor dem Werkstor nicht Halt“ begleitete die erste große Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 1972. Avis-Präsident Robert Townsend predigte die Bevollmächtigung und Beteiligung der Beschäftigten, um das „Abwürgen der Gewinne“ durch „unfähige Führer“ zu verhindern. Gleichzeitig bemühten sich Ökonomen und Soziologen, die Einflussnahme einzelner Führungspersönlichkeiten auf Unternehmenserfolge zu relativieren. Hinzu kam ein Automatisierungsschub, der etwa im Automobilbau das Interesse an Produktionsprozessen und betrieblichen Entscheidungen in den Vordergrund treten ließ. Es entstanden Strukturen von Gruppenarbeit, in denen die Beschäftigten in kleinen Einheiten in erweiterter Eigenverantwortung arbeiteten. Auch kritische Industriesoziologen sahen darin Potenzial. Während die Modernisten auf mehr Wirtschaftlichkeit und höhere Produktivität setzten, erhofften sie sich eine Humanisierung der Arbeit.
Dass sich beides nicht widersprechen muss, machte Ricardo Semler vor. Als sein Familienunternehmen Semco, das 3.500 Leute beschäftigte, 1990 in den Sog der brasilianischen Finanzkrise geriet, senkte er zwar radikal die Kosten, diskutierte und beschloss die Lösungen aber gemeinsam mit den Beschäftigten. Heute hat Semco nur noch vier Hierarchieebenen, die Rolle des Firmenchefs rotiert unter sechs Topmanagern, die Beschäftigten legen Arbeitszeit und Quoten selbst fest.
Für die meisten Führungskräfte waren die Zauberworte in den Achtziger- und Neunzigerjahren aber nicht Demokratie und Mitbestimmung, sondern Reengineering und Lean Production: Unternehmen sollten ihre Schlüsselprozesse identifizieren und sie so effizient wie möglich gestalten. Sie gliederten Betriebsteile aus und entließen massenweise Leute. Auch als diese Veränderungen nicht die gewünschte Wirkung erbrachten, wurden sie nicht abgestellt, sie standen nur nicht mehr im Mittelpunkt. Denn in der Zwischenzeit hatten die McKinsey-Berater Peters und Waterman schon das nächste Patentrezept in die Diskussion eingebracht: die Orientierung am Kunden.
Beide Prozesse wurden von einem innerbetrieblichen Wettbewerb in Business Units und Profit Centern begleitet. Für die Beschäftigten entstand anstelle von Hierarchie und Kommando ein Kontrollsystem, das sich ausschließlich am Markt orientierte und ihn bis ins Unternehmen holte. Im Extremfall agierte jeder in einer Art Selbst GmbH als sein eigener Unternehmer. Dahinter stand die Idee, dass die Selbststeuerung, sofern sie dem scheinbar objektiven Zwang des Marktes unterliegt, das effektivste Instrument ist, um aus den Beschäftigten ein Maximum an Leistung herauszuholen. Intel-Chef Andrew Grove schrieb 1997: „Die wichtigste Aufgabe der Führungskräfte ist, eine Umgebung zu schaffen, in der die Mitarbeiter leidenschaftlich entschlossen sind, auf dem Markt erfolgreich zu sein. Angst vor dem Wettbewerb, Angst vor einem Bankrott, Angst, einen Fehler zu machen, und Angst zu verlieren können starke Motivationskräfte sein.“
Manche der solcherart „Motivierten“ empfanden die Arbeit in flexiblen Einheiten durchaus als verlockend, sofern sie tatsächlich eine ausreichende Autonomie – und Unabhängigkeit von äußeren Renditevorgaben – mit sich brachte. Industriesoziologische Untersuchungen weisen darauf hin, dass Gruppenarbeit unter demokratischen Bedingungen die Produktivität um bis zu zwanzig Prozent erhöhen kann.
Den meisten Beschäftigten ging es aber wie vielen Führungskräften auch: Der ständige Wandel und die immer neuen Herausforderungen haben sie nur verunsichert. Inzwischen beteiligen sie sich vehement an der Suche nach Lösungen für die Wissensgesellschaft und sind ein dankbares Publikum für Managementbücher und -seminare, deren Halbwertszeit immer kürzer wird. Nicht weniger als neuntausend verschiedene Konzepte hat die Gallup Organization, die seit 35 Jahren die Managementwirklichkeit untersucht, in dieser Zeit gezählt.
Kein Wunder, dass eine vermeintlich sehr einfache Lösung wieder dabei ist, gesellschaftsfähig zu werden, wie das 3. Unternehmerforum Wittlich in diesem Jahr illustriert. Zum Thema „Persönlichkeit und Unternehmenserfolg“ hat das Inmit-Institut für Mittelstandsökonomie Hans Riegel aufs Podium geladen, den Chef der Haribo GmbH. Riegel gilt als einer der letzten ökonomisch erfolgreichen Patriarchen. In seinem Bonner Unternehmen kontrolliert er alles selbst. Es soll keinen Brief geben, der nicht über seinen Tisch geht. Und als die Beschäftigten vor einiger Zeit einen Betriebsrat wählen wollten, mussten sie sich dazu in einem Keller treffen.
BEATE WILLMS, 36, ist taz-Redakteurin im Ressort Wirtschaft und Umwelt.
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