: Minuten der wahren Empfindung
„Quiet Is The New Loud“ direkt aus Berlin: Während Contriva Protagonisten einer neuen Innerlichkeit mit Anschluss an die Welt der Elektronik sind, singt Christiane Rösingers neue Band Britta Lieder über das Leben der Boheme und seine Kehrseiten
von GERRIT BARTELS
Von hier aus habe man früher direkt auf die Mauer sehen können, sagt Max Punktezahl, zeigt versonnen aus dem Fenster und fügt an, er wohne schon lange in diesem Haus in der Strelitzer Straße in Mitte und stamme wie seine drei Bandkollegen aus dem Ostteil Berlins.
Punktezahl ist Mitglied der Berliner Band Contriva, zusammen mit Masha Qrella sitzt er in der Küche seiner Wohnung, um Fragen zu Leben, Musik und dem Wohl und Wehe seiner Band zu beantworten. Während Qrella einen eher zurückhaltenden Eindruck macht, erzählt Punktezahl freimütig, dass seine Eltern zwei Etagen höher wohnen (das Elternhaus sozusagen), die vielen dicken wissenschaftlichen Bände in seinem Flur (unter anderem die gesammelten Werke über die Flora Bulgariens!) einst seinem Opa gehörten und er selbst gerade sein Chemiestudium beendet hat.
Viel schwieriger dagegen wird es, als die beiden Mittzwanziger beschreiben sollen, was sie so alles an Inhalten mit ihren ruhigen und instrumentellen Songs transportieren. Da stockt das Gespräch, da fällt die Wortwahl nicht leicht. Von „nostalgischem Touch“ sprechen sie dann, von den Siebzigerjahren, davon, dass ihr Sound sicher was „Ländliches, Naturverbundenes“ habe. Gerade Letzteres ruft allerdings noch im selben Moment ein abfälliges Stöhnen hervor. „Ja“, sagt Punktezahl plötzlich, und sein kurze Zeit nachdenklich wirkender Gesichtsausdruck hellt sich wieder auf, „unsere Musik ist vielleicht etwas konservativ, sie vertraut keinen Trends.“
Schwerer Trendverdacht
Das klingt nicht sehr spektakulär, schon gar nicht, wenn man bedenkt, dass Contriva schwer unter Trendverdacht stehen und mit ihrem 2000er-Debütalbum „Tell Me When“ und dem kürzlich erschienenen Doppel – und Remixalbum „8 Eyes (’96–99)“ für viel Aufsehen erst in Berlin und später auch dem Rest der Republik gesorgt haben. Contriva zählen zu den Bands, die Mitte der Neunziger in einem Umfeld von abbruchreifen Häusern, umfunktionierten Wohnzimmern und illegalen Bars ihre ersten musikalischen Gehversuche machten. In der Folge konnten sie es nicht vermeiden, als wesentlicher Teil einer musikalischen Bewegung aus Berlin bezeichnet zu werden: der Berliner Schule, wahlweise der Neuen Berliner Schule.
Eine Zeit lang wurde mit diesem Begriff vor allem der Freude darüber Audruck gegeben, nach Jahren ziemlicher Ödnis endlich mal gute Musik aus Berlin hören zu können, Musik von Bands wie eben Contriva, ihrer Schwesterband Mina, von Jeans Team, Commercial Breakup oder Britta. Anders als in Hamburg aber, wo es ein paar Jahre vorher gleichfalls eine musikalische Schule gab, in der es viel um Liebe, Gefühle und deutsche Texte ging, um Pop und Politik, verweigern sich Berliner Bands jeglichem Diskurs. Ihr einziger Nenner ist der, dass man keinen Nenner für sie finden kann. Man ist anders oder strange, man schert sich nicht um Strategien und macht keine Pläne, und wenn denn irgendwo Formen des Widerstands gegen die Neumittisierung Berlins in ihrer Musik konstatiert werden können, dann nur in Spuren und einem Spektrum, das von einer lauten Flucht nach vorn („Rock!“) über rückwärtsgewandte elektronische Spielereien („1, 2, 3, 4, keine Melodien“) bis hin zu Lo-Fi-Sounds als Beigabe zu Plätzchen und Tee reicht. (Definitorische Leerstellen besetzen derweil andere: etwa ein Berliner Jugendradiosender, der zusammen mit einer großen Plattenfirma einen Sampler mit dem Titel „Berlin macht Schule“ herausgebracht hat und dort seine eigene Schule präsentiert.)
Raus aus der Stadt
Contriva wiederum entsprechen höchstens mit ihren stürmischen und immer ausverkauften Konzerten dem Hype um die Berliner Schule, setzen ihm ansonsten aber viele Widerstände entgegen. Schon an der Gestaltung ihrer Cover merkt man, wohin die Reise geht: Während auf „Tell Me When“ eine kleine Bahnhofsstation und ein See in der Slowakei abgebildet sind, ziert „8 Eyes“ eine Landkarte mit so weltbewegenden Orten wie Amalienhof, Bartelshagen oder Matgendorf. Raus aus der Stadt, direkt aufs Land, weg von Glamour und Geschrei, hin zu Ruhe und Kontemplation, zu den echten Gefühlen und den Songs, die auch ohne Elektronik und ohne große Worte funktionieren.
Was Qrella und Punktezahl mit „naturverbunden“ genau meinen, umreißen sie etwas später noch einmal anders: „In unserer Musik liegt der Wunsch nach mehr Sicherheit“, sagt Punktezahl. „Ich habe den Eindruck, dass es gerade in unserer Gesellschaft gern gesehen wird, hohe Risiken einzugehen, die Messlatten immer höher zu legen, auch wenn man weiß, dass man sie gar nicht erreicht.“ Und Qrella ergänzt: „Du musst laut sein und sagen, dass das, was du machst, der absolute Wahninn ist. Wir haben keinen Bock, unsere Band diesem Stress auszusetzen.“
Da kann man natürlich, vorurteilsbeladen wie man ist, die Herkunft Contrivas mit ihrer Sicht der Dinge locker kurzschließen, von wegen östlicher Beschaulichkeit und Zusammenhalt versus westlicher Schnelligkeit und Kälte. Dagegen spricht wiederum, das Masha Qrella, Max Punktezahl und die beiden anderen Bandmitglieder Hannes Lehmann und Rike Schuberty sich locker in den jeweiligen Szenen bewegen und nicht unbedingt schwer wiegende Probleme mit dem schönen, neuen Berlin haben. Auch ihre Musik hat etwas gegen profane Deutungsversuche, sagen wir Postrock ohne Post oder Easy Listening ohne Easy. Doch so dominant ihre Schönheit ist, so sehr sie nur mit sich selbst beschäftigt zu sein scheinen, so gut kann man Contriva dann wieder als Protagonisten einer neuen Innerlichkeit bezeichnen, einer neuen Empfindsamkeit. Die erinnert weniger an Peter Handke oder Ulla Meinecke, sondern ist ein schöner, deutscher Widerhall auf das „Quiet Is The New Loud“ der norwegischen Band Kings Of Convenience, das besonders in England gleich wieder zu einer ganzen „Bewegung“ mit Bands wie Travis, Coldplay oder Turin Breaks wurde. Wenn aber alle Gitarren freundlich klingen und alle Herzen schmelzen, sorgen Contriva mit den Remixes auf „8 Eyes“ (u. a. von Jörg Burger und Jan Jelinek) für Anschluss an die Welt der elektronischen Musik. Dabei fällt auf, dass ihre Songs geradezu prädestiniert zu sein scheinen, elektronisch noch einmal neu arrangiert zu werden, so gut sind sie. Als sich das Gespräch an diesem Nachmittag langsam dem Ende zuneigt, sagen Punktezahl und Qrella noch, dass sie sich eigentlich viel lieber mehr über Aufnahmetechnick, Akkordfolgen und Songsarrangements unterhalten hätten als über das Wesen ihrer Musik.
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Ortswechsel, Weltrestaurant Markthalle in Berlin-Kreuzberg, Lieblingscafé erfolgreicher Kreuzberger Altvorderer, Hauptquartier von Christiane Rösinger, die hier schon zu Zeiten der Lassie Singers bevorzugt Interviews gegeben hat. Jetzt heißt es, über das zweite Album „Kollektion Gold“ ihrer neuen Band Britta zu sprechen. Bis auf die Bassistin Julia Miess trudeln nach und nach alle Mitglieder der fünfköpfigen Frauenband ein: Barbara Wagner, die zweite Gitarristin, Mitbetreiberin einer Konzertagentur, die ihr Geld mit Jobs wie dem Casting für Jörg Pilawas Millionenspiel verdient; Christiane Rösinger, die haupt- oder nebenberuflich, je nach Sichtweise, Autorin für taz, FAZ und Spex ist und auch einen Roman („aber kein Pop-Roman!“) plant; später kommen Britta Neander, erste Gitarristin, Gründungsmitglied von Ton Steine Scherben, hauptberuflich auf einem Kreuzberger Kinderbauernhof tätig, und die Keyboarderin Rike Schuberty, die ansonsten bei Contriva spielt und Puppenspiel studiert.
Arbeitsamt und Boheme
Man merkt es schon bei der Aufzählung: Britta singen nicht nur über das Leben zwischen Arbeitsamt und Boheme, über zwangsbohemistische Lebensentwürfe, sondern sie kennen sich aus mit dem Durchwurschteln. Die Illusion, den wirklich großen Wurf zu landen, haben insbesondere Rösinger, Wagner und Neander nicht mehr. Anders aber als bei Contriva und ihrem nach innen gerichteten Bandmodell ist bei Britta der Umgang mit der Öffentlichkeit souverän, wissen sie um Inszenierungen und Selbstinszenierungen.
Zum Beispiel, indem sie anlässlich ihres ersten Albums „Irgendwas ist immer“ Schlagworte wie „Neue Bitterkeit“ oder „Post-Riot-Girlism“ für ihre Band erfanden, die gern aufgegriffen wurden und sie auch heute noch begleiten. Auch von passionierter Melancholie war im Zusammenhang mit ihrer Musik öfters die Rede, was Rösinger so kommentiert: „Das mit der Melancholie kann ich bald nicht mehr hören.“ Die Geister, die man rief und die man jetzt zumindest äußerlich versucht zu vertreiben: per Albumtitel „Kollektion Gold“, der Assoziationen zu einem Best-of-Album nahe legt und durch das goldene Cover adäquat zum Ausdruck gebracht wird. Den Arbeitstitel „Das Leben der Boheme“, den Rösinger gern verwendet hätte, verwarf die Band wieder, „weil er schon besetzt war“ (Neander), aber auch „weil ja in Lifestylemagazinen schon die Trompete [Ben Beckers Bar in Tiergarten, Anm. d. Red] als Boheme bezeichnet wird“.
Immer rufen alle an
Die ausnahmslos schönen, sensiblen, eher leisen und melodiösen als krachenden Songs aber erzählen dann wieder vor allem von einem Leben der Boheme und dessen Kehrseiten. Rösinger, die fast alle Songs geschrieben hat, schafft es dabei, sich frei zwischen unterschiedlichen Gefühlsaggregaten zu bewegen: „Und auf der Straße der Pariser Kommune denk ich ganz kurz, dass ich jetzt glücklich bin und du sagst: Wir sind die traurigsten Menschen von ganz Berlin.“ Oder: „Immer rufen alle an, denn ich bin so beliebt, dass ich es kaum ertragen kann.“
Leben am Rande der Nacht, Lieder für den Tag danach, Lieder der Nacht, für uns gemacht. Dazu Probleme, die andere gern hätten; Probleme aber auch, von denen andere gar nicht wissen, dass es sie gibt: Rösinger sagt, dass sie es müde geworden sei, sich immer wieder neue Images zu konstruieren. Sie weiß dann aber wieder, „dass es auch als Indie-Band nicht ausreicht, einfach nur eine Platte zu machen“.
So wandeln Britta auf dem schmalen Grat von Logos, No Logos und der Musik only, singen „von allem was geschieht, bleibt nie was übrig, nur ein Lied“, und freuen sich trotzdem wie Schneeköniginnen über Besprechungen im Spiegel oder der Zeit. (Von wegen Boheme!).
Entspannt abwarten heißt die Devise, und irgendwo zwischen der freudigen Aufgeregtheit von Christiane Rösinger und dem abgeklärten „Alles-schon-erlebt-haben“ von Gitarristin Britta Neander die richtige Einstellung finden. „Schreib doch einfach, wir wären das Gegenmodell zu den No Angels“, sagt Christiane Rösinger noch zum Abschied.
Britta: „Kollektion Gold“ (Flittchen/Efa); Contriva: „8 Eyes (’96-99)“ (Monica/Efa). Britta gehen ab 2. 4 auf Deutschlandtour, Contriva ab 21. 4.
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