: Sehnsucht nach der Wirklichkeit
Beim „Kleinen Fernsehspiel“ sind die Grenzen zwischen Film und Fernsehen, Fiktion und Dokumentation aufgehoben. Heute Nacht beginnt mit Thomas Ciuleis Berlinale-Beitrag „Europolis“ die Reihe „Lebensgeschichten aus Osteuropa“ (ZDF, 00.10 Uhr)
von STEFFEN GRIMBERG
„Schau mal, hier ist Sulina, dort ist Bukarest – und drüben ist San Francisco. San Francisco – nur Gott scheißt so weit.“ Sulina, sagen die Menschen, die in der Stadt im Donaudelta wohnen, hieß früher einmal Europolis, war Handelsstadt am Strom, kurz bevor der ins schwarze Meer mündet. Heute liegen die Schiffe als Wracks an verrottenen Kais oder dienen aufgebockt als dürftige Unterkunft an Land. Wer wie Nicu noch als Fischer ins Delta hinausfährt, hat höchstens ein kleines Ruderboot.
„Solange Ceauçescu noch gelebt hat, haben wir noch was zu knabbern gehabt“, sagt Toni, der säuft und die Arbeit auf dem Kartoffelacker lieber seiner Frau überlässt. „So ist’s halt. In einen Zustand sind wir gekommen. In einen rumänischen Zustand.“
Thomas Ciuleis „Europolis“ wirft einen ruhigen, klaren Blick auf diesen Zustand. Zurückhaltend, aber ohne Scheu porträtiert er den Alltag der kleinen Leute im Delta, den Kampf um die eigene kleine Existenz, dem verrottete Industrie und unberührt scheinende Natur eine paradoxe Kulisse bieten. „Das Delta ändert den Menschen stark“, sagt Pal, der Säufer, am Schluss des Films: „Die Zivilisation ist beschränkt. Sehr beschränkt. Der Mensch lebt in der Einsamkeit.“
„Europolis“ ist nur die erste von vier „Lebensgeschichten aus Osteuropa“, vier Dokumentarfilmen über Menschen und Länder, von denen das Fernsehen selten ausführlich erzählt. „Europolis“ ist aber auch ein Beispiel par excellence für das Gesamtkunstwerk „Kleines Fernsehspiel“, das oft genug die Montagnacht zur Ausnahmeerscheinung im deutschen TV-Alltag macht.
Vielleicht ist es „diese Sehnsucht, etwas von einer Wirklichkeit erzählt zu bekommen“, wie es Heike Hempel, die Redaktionsleiterin des „Kleinen Fernsehspiels“ sieht: Ein Kontrapunkt des „Echte Leute“-Fernsehens gegen die „großen Büder und Millionäre“ auf den anderen Programmen und Sendepläzen, eine „Lebensform, die zur Prime Time nicht vorkommt“. Und die zudem Grenzen bewusst verwischt und übrschreitet: „Das kleine Fernsehspiel“ macht keinen Unterschied zwischen fiktionalen Stoffen und dokumentarischen Genres. Dieses „Abenteuer der beiden Linien“ möchte Hempel, die die renommierte Redaktion erst im Mai letzten Jahres übernahm, genauso erhalten wie die Möglichkeit, mit unterschiedlichen Längen und Formaten zu experimentieren.
Sie will gegen die mediale Konkurrenz von heute besehen, Videoclip und Internet nicht ignorieren, sondern gerade so die Grundprinzipien der seit über 35 Jahren bestehenden Reihe weiterentwickeln: Unabhängigkeit, Nachwuchsförderung, radikales Erzählen – und das natürlich mit eher bescheidenem Budget.
„Keine Angst vor Fehlern und keine Angst vor Erfolg“ (Hempel) könnte glatt als Redaktionsmotto durchgehen. Erfolg, der sich nicht an der Quote messen lassen muss. Auch dann nicht, wenn „Das kleine Fernsehspiel“ mehrmals im Jahr von seinem fixen Sendeplatz herunter darf – und es im eigenen Programm oder bei Arte schon mal in die normale Spätabendschiene ab 22.00 Uhr gerät.
Erfolg vielmehr, der sich ablesen lässt an Entdeckungen, Auszeichnungen oder den Kinostarts, die etliche der „Kleinen Fernsehspiele“ vor ihrer Erstaustrahlung erleben. Mit neun Filmen (u. a. „Europolis“) war die Redaktion auf der diesjährigen Berlinale vertreten, der obligatorische anschließende Empfang war laut, jung und natürlich low budget, und als es dann hieß „wir sind eine Fernsehredaktion, haben alle gelacht“, erzählt die dabei ausnahmsweise nicht ganz so bescheiden wirkende Redaktionsleiterin, denn bewusst will sie dieses Grenzland zwischen Fernsehen und Kino stärken, neue Erzählweisen entdecken und Grenzen ausloten. „Angst vor populären Genres“ wie Krimi und Kömodie gilt nicht, sagt Hempel, die neben dem „Kleinen Fernsehspiel“ auch eine der drei Redaktionen im „großen“ Fernsehspiel des ZDF leitet – und fragt lieber nach neuen Ansätzen in Sachen Dokudrama: Zeitgeschichtliches Erzählen möchte sie in Zukunft verstärkt ins Programm holen. Und sich für „Das kleine Fernsehspiel“ um einen regelmäßigen Sendeplatz „mit einer 23“ bemühen.
Die Chancen sollten gut stehen. Während vor wenigen Jahren beim ZDF noch über ein Auslaufen der Reihe gestritten wurde, stammten 2001 drei von vier Grimme-Preisen für das ZDF – vom „Kleinen Fernsehspiel“.
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