piwik no script img

chronik

Der letzte Akt

Freitagabend: Gerüchte über eine Verhaftung Milošević’ lösen helle Aufregung aus. Abgeordnete der „Sozialistischen Partei Serbiens“ (SPS) verlassen demonstrativ das Parlament. Sondersendungen in Rundfunk und Fernsehen. Schweigen der Regierung. Reporter und neugierige Bürger eilen zur Užička Straße 11 im Belgrader Nobelviertel Dedinje. Vor dem massiven Eisentor der weißen Villa, die Milošević seit Wochen nicht verlässt, stehen Polizisten und die „Volkswache“ des gestürzten Expräsidenten: Rund einhundert im eisigen Wind frierende, vorwiegend ältere Menschen, die den „größten serbischen Helden“ mit ihrem Leben verteidigen wollen.

Samstag, 1.00 Uhr: Milošević zeigt sich, winkt, lächelt und dementiert so alle Gerüchte über seine Festnahme. Frauen weinen gerührt. Männer heben stolz das Haupt. „Slobo, wir geben dich nicht her!“, schreien sie.

2.00 Uhr: Die Polizei bekommt Verstärkung. Rund einhundert Polizisten mit Helmen und Schutzschildern verdrängen die Volkswache und die Journalisten und machen den Weg zur Villa frei. „Mörder! Verräter!“, schreien die versammelten Menschen.

2.40 Uhr: Plötzlich rasen ein gepanzerter weißer Kombi und fünf Jeeps auf das Eisentor zu. Männer, in schwarzen Lederjacken und schwarzen Masken, mit Schnellfeuerwaffen gerüstet, springen aus den Autos und über den Zaun. Schüsse knallen. Glas wird zerbrochen. Das Feuergefecht dauert über zehn Minuten. Die Sondereinheit der Polizei zieht sich zurück und bezieht Stellung auf der Straße. Zwei Polizisten und ein Fotoreporter sind verwundet.

3.20 Uhr: Weitere Sondereinheiten der Polizei kommen, dieses Mal schwer bewaffnet. Die Villa wird jedoch vorerst nicht wieder gestürmt. Der zuständige Polizeikommandeur wird hereingelassen. Milošević lässt ausrichten, dass er „lebendig nicht ins Gefängnis gehen wird“. Milošević’ Gattin, Mira Marković, und Tochter Mirjana, befinden sich ebenfalls im Haus.

9.30 Uhr: Innenminister Dušan Mihajlović informiert: In der Villa befänden sich rund zwanzig mit Maschinengewehren, Panzerfäusten und Handgranaten bewaffnete Leibwächter. Einige von ihnen stünden „unter dem Einfluss von Alkohol“. Die Polizei sei entschieden, die Festnahme „friedlich oder mit Gewalt“ durchzuführen, wolle jedoch ein Blutbad vermeiden.

15.00 Uhr: Ein sonniger Nachmittag. Tausende Polizisten haben das Gebiet um die Villa abgesperrt. Einige hundert Anhänger von Milošević harren immer noch aus. Medien verbreiten das Gerücht, Teile der Armee, die Bundesregierung und Präsident Vojislav Koštunica würden sich der Verhaftung von Milošević widersetzen. Man befürchtet Massendemonstrationen. Die Auseinandersetzung sei „auf die Villa lokalisiert“, erklärt beruhigend Serbiens Premier Zoran Djndjić.

19.00 Uhr: Nach einer Sondersitzung liest Präsident Koštunica eine gemeinsame Erklärung der Landes- und Bundesregierung, des Innenministeriums und des Generalstabs vor: Niemand, auch nicht Slobodan Milošević, darf sich über das Gesetz hinwegsetzen. Die Staatsspitze demonstriert Einigkeit. Es wird klar, dass die Festnahme von Milošević unmittelbar bevorsteht. Regierungsvertreter beginnen mühsame Verhandlungen mit Milošević.

Sonntag, 4.35 Uhr: Milošević gibt nach und wird abgeführt. Seine Tochter Marija verliert die Nerven und schießt wild um sich. Niemand wird verletzt. Milošević wird ins Belgrader Zentralgefängnis gefahren. Zellen für Prominente sind dort nicht vorgesehen. Niemand demonstriert, seine Anhänger sind nirgendwo zu sehen. Milošević beendet seine Laufbahn im Gefängnis als das, was er eigentlich immer schon war: ein Gangster.ANDREJ IVANJI

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen