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Wenn die Identität unter den Worten wegrutscht

■ Hintereinander montierte Spiralgedanken: Der Norweger Jon Fosse liest aus seinem Roman „Melancholie“

Jon Fosse schreibt auf Nynorsk. In jener der beiden norwegischen Sprachvarianten, die sich auf das Westnordische stützt – eine Tatsache, die gut dazu passt, dass der derzeit deutschlandweit entdeckte 41jährige Autor im westnorwegischen Bergen wohnt. Und wenn er es nicht von selbst getan hätte, hätte man ihm raten müssen, das gegenüber dem konkurrierenden Bokmal ungleich schroffere Nynorsk zu verwenden. Ein Ideologicon ist die Nutzung des Nynorsk nur bedingt, der Streit um die einzig angemessene Norwegisch-Variante – vergleichbar der deutschen Rechtschreibreform – inzwischen abgeklungen. Ideologisch sind auch nicht die Titel seiner Dramen: Das Kind, Ende 2000 am Thalia Theater erstmals auf Deutsch aufgeführt, Der Name und Die Nacht singt ihre Lieder heißen seine Stücke, die von spärlich bestückten Dialogen leben.

Solche Gesprächsrudimente sind es auch, die den Roman Melancholie außergewöhnlich machen, aus dem Fosse jetzt im Literaturhaus liest. Vom Maler Lars Hertervig, lebend, wahnsinnig werdend und sterbend um die Jahrhundertwende, handelt der Roman. Ein Außenseiter ist der Künstler, der sich unerhörterweise in eine 15jährige verliebt und darob in die Psychiatrie verbracht wird. Thomas Bernhards Reflexionskaskaden nachempfunden sind Fosses hintereinander gebaute Hauptsätze. Die Zauberformel zur Ich-Auffindung und zur Selbstzweifel-Beseitigung hofft der Maler so zu finden. Aber es nützt nichts: Der Protagonist spürt, dass ihm die Identität, die er suchte, unter den Worten wegrutscht. Möglich auch, dass es der streng lineare Satz- und Gedankenbau des Erzählers ist, der ihn an einer unverstellten Innenschau hindert. Und leider gleitet Fosse dabei manchmal ins Kitschige ab, wenn zum zehnten Mal vom „hellen, wallenden Haar“ der Geliebten die Rede ist. Auch die Endlosschwärmereien des Liebenden lösen bei der Lektüre starke Gähnreflexe aus.

Doch letztlich scheint all dies nur Vorbereitung auf jenes letzte Buchdrittel gewesen zu sein, in dem Stil, Gedankengeflecht und Protagonistin endlich übereinander passen: Wie ein Fisch taucht die alte Oline, Schwester des längst verstorbenen Malers, in Kindheitserinnerungen ein. Zwischen Inkontinenz und Demenz bewegt sich ihr Leben, das Auslaufen von Körperflüssigkeit und Lebensstruktur prägt das Leben der Greisin: Kennt sie die Aline, die ihr beim Putzen hilft, oder nicht; zögert sie den Besuch beim sterbenden Bruder trotzig hinaus oder hat sie ihn wirklich vergessen? Oline zieht einen hinein in ihre Welt, aus der immer größere Stücke herausbröckeln und durch die sie sich mal ehrlich, mal störrisch hindurchmogelt. Aber verzweifelt ist sie deshalb nicht: Manchmal ärgerlich über ihre Vergesslichkeit, oft aber auch bloß verwundert blickt sie auf ihr leise entgleitendes Leben. Petra Schellen

Jon Fosse: Melancholie. Berlin 2001, 450 S., 49,90 Mark

Lesung heute, 20 Uhr, Literaturhaus

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