: Die kurze Geschichte der Aktion Heimat
Vor 55 Jahren quoll das zerstörte Hamburg über vor Flüchtlingen und Ausgebombten: Ein Lager aus Wellblechhütten für mehr als 90.000 Menschen entstand im Stadtpark ■ Von Bernhard Röhl
Der Krieg ist vorbei, und Flüchtlinge, befreite ZwangsarbeiterInnen, ehemalige Soldaten, Überlebende aus dem „letzten Aufgebot“ der braunen Wehrertüchtigungslager und untergetauchte Nazis bevölkern die Stadt. Gleichzeitig warten viele „Butenhamburger“ – die von den Luftangriffen aus der Stadt vertriebenen BewohnerInnen – auf die Rückkehr nach Hamburg. Es gibt viel zu wenig Wohnungen für viel zu viele Menschen – 1,4 Millionen Menschen lebten schon kurz nach nach dem Krieg in Hamburg –, die Stadt ist nach den Bombardements der Alliierten und dem Feuersturm des Jahres 1943 zu weiten Teilen zerstört: Schon beginnen die ersten zu murren, wenn Flüchtlinge Wohnraum erhalten.
Die britische Militärregierung reagiert: Sie gibt im Oktober 1945 den Befehl, auf der großen Stadtparkwiese in der Nähe des Planetariums 300 Hütten aus Wellblech aufzustellen. Es entsteht das Stadtparklager.
450 Bauarbeiter errichten die Baracken innerhalb von drei Wochen. In jeder Hütte stehen 24 Betten und ein primitiver Ofen – Relikte aus Luftschutzkellern und -bunkern. Das Lager entsteht unter dem Namen „Aktion Heimat“ – und dieser Name hat seinen Grund. Denn in den Hütten sollen Ost-Flüchtlinge untergebracht werden, die anschließend wieder in die sowjetische Zone gebracht werden sollen. Die Briten wollen damit den unkontrollierten Verkehr zwischen ihrer und der sowjetischen Zone in den Griff bekommen. Der Schwarzmarkt zwischen beiden Zonen floriert, das ist aus Sicht der Militärregierung „eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung“. Das Lager soll ein Schritt dahin sein, dem Schwarzmarkt das Wasser abzugraben.
Nachkriegs-Bürgermeister Rudolf Petersen erlässt am 22. November einen Aufruf, in dem es heißt: „Alle in Hamburg wohnhaften Flüchtlinge, die in den zuständigen Ausgabestellen für Ernährung und Wirtschaft einen vorläufigen Flüchtlingsausweis zur Rückkehr in ihre Heimat erhalten haben, müssen sich am Montag, dem 26. November, zwischen 9 und 16 Uhr im Stadtparklager, Eingang Parkseering zur Abfahrt einfinden.“ Die Leute sollen ihre Ausweise und Abmeldungen mitbringen und können zunächst auch so viel Gepäck mitnehmen, wie sie tragen können. Später wird die Menge begrenzt.
Es schneit schon, als Ende November die ersten Personen das Lager betreten. Sie werden dort verpflegt mit einem kargen Mahl aus Weißkohl und ein paar Fleischstü- cken. Dazu erhalten sie 250 Gramm Brot, 20 Gramm Margarine und 20 Gramm Marmelade. Manchmal verteilt die Lagerleitung Fischsuppe. Als Abendessen gibt es 500 Gramm Brot, 50 Gramm Butter und 50 Gramm Wurst. Die Menschen werden kurz nach Krankheiten gefragt, mit einem Pulver entlaust und erhalten Marschverpflegung: ein Drittel Brot und etwas Butter und Wurst.
Am Morgen des 29. November setzt sich der erste Transportzug in die sowjetisch besetzte Zone in Bewegung, die Wagen sind ungeheizt. Im Örtchen Völpke übernachten die Reisenden, von hier aus müssen sie in überfüllten Zügen auf eigene Faust weiter fahren – die meisten wählen die Route über das zerstörte Magdeburg. Wer bis Mecklenburg weiter will, kommt erst am 3. Dezember an.
Mitte Dezember kommt es zum Konflikt zwischen Briten und Sowjets über die „Aktion Heimat“. Die Sowjets protestieren gegen die Transporte, die daraufhin eingestellt werden. Die Menschen, die sich eigentlich auf einen ganz kurzen Aufenthalt im Lager eingerichtet haben, sitzen plötzlich in den kalten Wellblechhütten fest. Nur in einem Drittel der Betten gibt es anfangs Strohsäcke, die Latrinen gelten als Seuchenherde. Es dauert zwei Monate, bis Briten und Sowjets sich auf neue Zugtransporte über die Zonengrenze verständigen. Im Februar werden sie wieder aufgenommen, von November bis Februar durchlaufen 35.000 Menschen das Lager in Richtung Osten.
Die Wochenzeitung Die Zeit schildert am 7. März 1946: „Wenn sie Schlange stehen, die Reisenden zur anderen Seite, machen sie den Eindruck, als dienten sie Käthe Kollwitz als Modell für ein Kolossalgemälde: Kaffee holen – Schlange stehen, Bon holen – Schlange stehen, Mittagessen holen – Schlange stehen. Du wirst täglich registriert. Kriegst eine Nummer, die dir einen Platz im nächsten oder übernächsten Zug sichert. Abendessen holen – Schlange stehen. Das reißt nicht ab.“
Im März 1946 verlassen 9500 Menschen Hamburg, im April sind es 13 Transporte mit 19.000 Personen, im Mai folgen 24 Transporte mit 21.000 Menschen. Zusammen handelt es sich um 49.669 Männer, Frauen und Kinder. Offiziell endet die „Aktion Heimat“ am 30. Juni 1946, das hatten die britische und sowjetische Militärregierung vereinbart. Danach sollen nur noch bei Bedarf vereinzelte Züge fahren. Am 17. Oktober wird der letzte Zug nach Osten abgefertigt. Bis dahin haben 90.000 Menschen im Lager campiert.
Nach Ende der Aktion beschließt das Wohnungsamt, zwei Drittel des Lagers für Bauarbeiter bereitzustellen, ein Drittel bleibt als Durchgangsstelle erhalten. Flüchtlinge kommen aus Dänemark, Auswanderer nach Südamerika finden hier vorübergehend Unterkunft. Die Zustände im Lager sind in dieser Zeit immer noch schlecht: Ratten, Wanzen und Mäuse regieren.
Bis April 1946 wird das Lager von einem früheren Major aus Ostpreußen geleitet. Unter seiner Führung machen sich Korruption und Bereicherung auf Kosten der Flüchtlinge breit, wie die Hamburger Nachrichten enthüllen. Gleichzeitig wird in dem Artikel davon gesprochen, dass militärische Umgangsformen im Lager herrschen und „nicht etwa Feingefühl im Umgang mit den Flüchtlingen“. Daraufhin wird das Lager von der Hamburger Sozialverwaltung übernommen.
Die hat vor der Übernahme einen Mitarbeiter ins Lager geschickt, der die Zustände begutachtet. Er berichtet von schikanösen Methoden der alten Leitung: „Das Lager ist noch ganz und gar militärisch aufgezogen. Es sind nach wie vor noch Offiziere an führenden Stellen, Stellen, die in jedem anderen zivilen Betrieb durch mittlere Beamten besetzt wären. Ton und Einstellung des Lagerverwaltungsleiters sind noch durch und durch militärisch. Herr Major, Hackenknallen, Leute geringschätzig behandeln, wenigstens im Ton, seinen Männern, wie er immer sagt, Schwierigkeiten bei der Erfüllung ihrer Wünsche machen, aber anders herum tut er, als ob er sich groß für sie einsetzt.“ Sozialsenator Paul Nevermann, später selbst Erster Bürgermeister, muss die Bediens-teten des Lagers wiederholt ermahnen, auf militärische Grußformen zu verzichten.
LagerinsassInnen beschweren sich zudem darüber, dass Beschäftigte ihnen in- und ausländische Zigaretten verkaufen wollen. Korruption, Diebstähle und Schiebergeschäfte kommen auch nach Ende der „Aktion Heimat“ vor. Im November 1946 besticht ein Fuhrunternehmer drei Leute aus der Lagerverwaltung mit 400 Kilogramm Fleisch, um sich die Alleinbelieferung zu sichern.
Auch nach dem Wechsel der Lagerleitung bessert sich die Situation der BewohnerInnen nicht. Denn jetzt übernehmen die so genannten Dienstgruppen das Kommando – Verbände, welche die britische Militärregierung aus Soldaten und Offizieren der Wehrmacht gebildet haben: 8600 Männer, die für die Dienstgruppen eingeteilt sind, befinden sich in Hamburg. Die Dienstgruppen gelten als „Chur-chills deutsche Armee“. Der britische Premierminister, der kurz nach dem Krieg die britischen Unterhauswahlen trotz des Sieges über Nazi-Deutschland verlor, will die deutschen Soldaten, vor allem aber die Offiziere, Gewehr bei Fuß behalten und sie einsetzen, „wenn die Sowjets ihren Vormarsch fortsetzen“, wie er schon 1945 an General Montgomery telegafiert. Der Kalte Krieg zeichnet sich ab.
Von den Hütten im Stadtparklager gibt es heute keine Spuren mehr. Als 1953 das Deutsche Turnfest nach Hamburg in den Stadtpark vergeben wird, werden die noch stehenden 180 Hütten abgerissen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen