Bürgerwart am Nebentisch

Dem Kanzler der Bundesrepublik Deutschland, Gerhard Schröder, zum 57. Geburtstag

Die duzen sich doch alle. Aber mit dem Kanzler per Du sein? Auch nicht das Wahre

Gerhard Schröder genießt es in diesen ersten Frühlingstagen ganz besonders, mittags zu Fuß von seinem provisorischen Amtssitz am Schlossplatz 1 zum Gendarmenmarkt rüberzuschlendern und sich beim Italiener ein paar Nudeln zu bestellen. Oder eine Ecke weiter ins Restaurant „Borchardt“ zu spazieren, um eins der köstlichen Schnitzel zu essen. Und wenn ihn dann, wie neulich, ein junger Mann am Nebentisch bittet, ein paar Minuten auf seine Bücher aufzupassen, dann fühlt Schröder sich wie ein ganz normaler Mensch: der Bürger-Kanzler unter seinesgleichen. (Anja Lösel, „Stern“, 29. 3. 2001)

Soll ich, oder soll ich nicht? Gerade hat er noch mit Bush oder Putin telefoniert. Jetzt sitzt er hier. Am Nebentisch. Ein ganz normaler Mensch. Der Bürger-Kanzler. Isst ein Schnitzel.

Nicht so auffällig hinschauen. Obwohl ... Er grüßt! Mich! Wie seinesgleichen! Soll ich zurückgrüßen? Oder doch so tun, als ob ich es nicht gesehen habe? Na, ich schau mal rüber und bewege ein wenig die Lippen. Er hat’s bemerkt. Und lächelt. Ich habe ihn erkannt. Erklärt er der jungen Frau an seinem Tisch. Neue Freundin? Nein, ist wohl Journalistin. Jetzt will er, dass sie ihr Aufnahmegerät ausstellt. Atmosphäre, Porträt, wehen Gesprächsbrocken herüber. Lieber schnell so tun, als ob ich den Roman weiterlese. Günter Grass: „Ein weites Feld“. Seine gefärbten Haare pappen ganz schön fest am Kopf. Und klein ist er. Aber macht schon was her. Ganz Machtmensch. Selbst, wenn er zur Toilette schlendert.

Deshalb bin ich nach Berlin gezogen. Hier spielt die Musik. Und der Kanzler kommt um die Ecke. Zu Fuß. Zurück an seinen Tisch. Die Journalistin ist ganz aufgeregt. Erhebt sich jetzt. Großzügig winkt der Kanzler ab. Schröder, ein Mann von Welt. Sie schreibt bestimmt für ein Magazin. Fragt auch solche Sachen: Frau, Kind, Essen, Regieren – Kanzlerprosa. Nicht so gut wie Grass. Ist ja nur Presse.

Das ist gut. Wie er seine Stimme einbalsamiert. Ganz weich wird sie, betörend. Erzählt von den ganz Großen: Blair. Ein Scherz, noch besser. Wie der Tony und seine Frau Cherie einmal zu ihm nach Hause kamen und ... – Mist! Der Kellner klaut mir die Pointe. Ja, ja, ich will noch einen Kaffee. Schnell ... – vorbei. Muss aber gut gewesen sein. Die Journalistin lacht laut, ein bisschen zu spitz. Zufrieden sieht sich Schröder um. Ein paar Gäste nicken ihm zu. Noch mehr wichtige Leute. Er kennt sie alle. Jetzt strahlt der Kanzler sogar.

Am liebsten würde ich den Grass zuschlagen und mich dazusetzen. Hallo, Herr Schröder, erzählen Sie doch mal, wie das war mit ... Na ja, kann man nicht machen, als Bürger. Aber irgendwas könnte man tun. Pinkeln muss ich auch mal. Der Kaffee treibt. Schon die fünfte Tasse.

Ein Autogramm ist zu blöd. Aber freuen würd’s ihn. Wenn er heute Geburtstag hätte, das wär’s. Hat er nicht sogar bald Geburtstag? So irgendwas ungefähr Ende fünfzig? Hingehen, gratulieren, Hand geben, loben, bester Kanzler seit ... – ja, ach nee. Man will ja auch nicht so aufdringlich sein. Aber warum eigentlich nicht. Einmal bin ich in Mitte, im Zentrum der deutschen Hauptstadt. Endlich sitze ich neben Gerhard Schröder, unserem Kanzler – also keine falsche Bescheidenheit. Mut habe ich genug. Das fordert auch der Grass. Mit dem ich überhaupt nicht vorankomme. Was eine Schwarte. Altes Sozi-Gegacker. Moment mal, der Schröder ist ja auch Sozi. Darüber könnte ich ihn kriegen. So tun, als ob ich Genosse wäre. Ihn mit Gerhard anreden. Die duzen sich doch alle. Aber mit dem Kanzler per Du sein? Auch nicht das Wahre. Außerdem stört die Journalistin. Die ihre Augen gar nicht mehr von Schröders Lippen lassen kann. Sieht schon richtig verliebt aus, die Schnatz.

Ich müsste dann aber langsam schon mal. Trau mich nur nicht. Nachher ist er weg, und ich steh da. Es muss einen Dreh geben. Doch was mit dem Buch. Ich geh jetzt auf Toilette und frage Schröder, ob er auf meine Bücher aufpasst. Das ist zwar ganz besonders blöde, und kein Mensch würde das glauben, wenn es irgendwo geschrieben stände, aber ich zieh das jetzt durch. Oder kontert er dann, dass hier, in dem teuren Lokal, ganz sicher keiner Bücher stiehlt? Erst recht nicht er selbst. Wahrscheinlich freut er sich. Wird halt ganz normal behandelt. Es hilft nichts. Ich mach das! Allen Mut zusammennehmen. Aber ganz gelassener Tonfall. Aufstehen und rüberflöten: „Herr Schröder, könnten Sie mal kurz ...“ MICHAEL RINGEL