: Darf Pippi Fleisch essen?
Sex-Politics, Öko, Abba und Che Guevara: Lukas Moodyssons „¡Zusammen!“ ist der Antifilm zur 68er-Debatte. Ohne die bizarren WGs von damals war die größere Offenheit von heute nicht zu haben
von CLAUDIA LENSSEN
Auf ihren alten VW-Bulli haben sie es aufgepinselt, am Telefon melden sie sich damit: „¡Zusammen!“ ist die Adresse von einem Dutzend Leuten aus einer lässig heruntergekommenen Villa, die neben adretten Siedlungshäuschen steht. Innen ist das Haus hinter den Obstbäumen voll gestopft mit Sperrmüllmobiliar, Matratzenlagern, Regalen und Kartons. Rot und gelb getöntes Licht, reichlich Zigarettenrauch, volle Rotweingläser und verstrubbelte Haarmähnen.
Heftige Tapetenmuster und hässliche Pullover arrangieren sich zum optischen Overkill. Auf dem Plattenteller rotieren Abba-Songs und „Love hurts“, an der Wand Che Guevara. Hier ist alles eng beieinander, ein Panorama von Typen aus der schwedischen Alternativszene, plausibel situiert im Jahr 1975, als ziemlich unterschiedliche Lebensexperimente möglich waren, wahrscheinlich nur nicht unter einem Dach.
Lukas Moodysson, der vor zwei Jahren mit „Fucking Åmal“ zum schwedischen Shootingstar avancierte, hat das Pech, seinen neuen Film „¡Zusammen!“ in einer Situation zu starten, wo alle Welt hier zu Lande von der scheinheiligen Debatte um die 68er und den langen Schatten ihrer Taten in den 70ern genug hat. Moodyssons Komödie ist eine mögliche Antwort auf die Dämonisierung. Ihn interessieren Parteikommunismus und Sex-Politics, Geschlechterkampf und Ökologie, Untergrundterrorismus und Drogen nicht als bloße Zerfallsprodukte, als getrennte Parallelwelten.
Es war einmal 68
Moodysson hat keine Polemik im Sinn, keine Trauerarbeit über Gescheiterte, sondern sucht in den unterschiedlichen alternativen Szenen von damals nach Korrespondierendem, nach dem Pool von gesellschaftlichen Anstößen, die bis heute nachwirken. Seine „Es war einmal“-Geschichte läuft auf ein Finale hinaus, in dem die Differenzen unwichtig werden – eine Portion Hoffnung und Entlastung, die man aus dem Kino nach Hause mitnehmen kann.
Seine Lieblingsidee von den 70ern ist im Filmtitel in einem Wort enthalten – vielleicht der Auftakt zu einem künftigen Programm, Märchen mit dokumentarischem Touch zu erzählen, komödiantischer als Ken Loach, diesseitiger als Lars von Trier, verwandt vielleicht mit Yasmin Dizdars „Beautiful People“.
Wie bei einer Engführung in der Musik bringt Moodyssons Skript einzelne Motive, exemplarische soziale Typen unter einem Dach zusammen. Als Kind aus Astrid-Lindgren-Land packt er das Unfassbare mit Nonchalance. In seiner Villa wohnen ein Marxist-Leninist, eine frisch zur Lesbe konvertierte Feministin, zwei Öko-Fundis, ein halbwegs transvestitischer Schwuler und eine Hand voll Leute, die nur irgendwie anders als ihre Eltern leben wollen, zusammen. Beruf und Geldverdienen spielen in Moodyssons Reich keine Rolle, typische politische Aktionen ebenso wenig. So dreht sich alles um die berühmt-berüchtigte Sphäre des Privaten, die bekanntlich politisch ist, wenn man richtig hinguckt.
Gespött, Gezänk, Stress wegen der demonstrativ aufgegebenen Intimsphäre – die Zumutungen, die für WG-Freaks damals zum Basiskurs in Sachen neuer Lebenskunst gehörten, sind bei Moodysson zum Lachen. Es passieren Kränkungen, weil das, was so schön „offene Beziehung“ heißt, nicht einfach auszuhalten ist. Trennung schmerzt, wenn die Expartner weiter unter dem Dach der WG zusammenleben. Muss man wirklich konsequent auf Fleisch in der Küche verzichten? Die ganze Variationsbreite der alten Geschichten wird in geraffter Form durchgespielt. Das kippt aber nie in die blanke Karikatur um, denn Moodysson setzt von Beginn an starke Kontrapunkte: zum Beispiel die Geschichte einer krisengeplagten „Normalo“-Familie, die, einmal mit der WG in Berührung, auf allen Seiten überraschende Energien freisetzt.
Fernsehlose Ärmlichkeit
Die Stärke des Films ist, dass er die Perspektive der Kinder in dem Chaos zu seiner eigenen macht. Während sie unter den mit sich beschäftigten Erwachsenen, den seltsamen Spielregeln, der Hässlichkeit und der fernsehlosen Ärmlichkeit ihres provisorischen Zuhauses leiden, entwickeln sie viel Fantasie, um ihre eigene Welt zu schützen und neue Freunde zu finden. Sie bringen die zerstrittenen Eltern wieder zum Gespräch zusammen und schaffen es überhaupt, die Grenzen zwischen dem WG-Haus und den Nachbarn zum Fließen zu bringen. Die Erwachsenen in der WG kommen ihnen vor wie aus einem Pippi-Langstrumpf-Buch entsprungen: Alles, was andere Menschen schön und richtig finden, reizt sie dazu, aus purer Lust genau das Gegenteil zu tun.
Moodyssons schwereloses kleines Traktat gibt sich aber nicht zufrieden mit dem grassierenden Klischee von der ewigen Infantilität. Es zeigt, dass die größere Offenheit heute ohne die bizarren WGs von damals nicht zu haben war.
„¡Zusammen!“, Regie: Lukas Moodysson. Mit Lisa Lindgren, Michael Nyqvist u. a., Schweden/Italien 2000, 106 Min.
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