Neunzehn Narbenauf Gerardos Arm

Die Geschichte eines Straßenjungen auf der Flucht vor der Polizei

TEGUCIGALPA taz ■ Gerardo ist ein richtiger Kotzbrocken. Er ist 17 und muss beweisen, wie cool er ist. Er sitzt auf einer Holzkiste und blickt nur auf, wenn es unbedingt nötig ist. Spätestens alle zwei Sätze spuckt er aus. Darin hat er Übung. Zentimetergenau neben den Schuh seines Gesprächspartners. So lange, bis der nervös wird und den Fuß zurückzieht.

Gerardo schleppt Obst- und Gemüsekisten auf dem Zentralmarkt der honduranischen Hauptstadt Tegucigalpa, von den ankommenden Lastwagen zu den Verkaufsständen. Nicht gegen Lohn, sondern für Trinkgeld. Umgerechnet zwei Mark am Tag kommen dabei üblicherweise zusammen.

Er ist vielleicht einssiebzig groß. Sein Job auf dem Markt hat ihn kräftig gemacht. Er hat pechschwarze Haare und pechschwarze Augen. Die breite Nase und die aufgeworfenen Lippen verraten seine indianische Herkunft. Er trägt ein löchriges grünes T-Shirt und eine rote Sporthose auf kaffeebrauner Haut. Seine nackten Füße sind schwarz vom Schlamm in den Pfützen. Das einzige Helle an ihm sind runde Flecken auf dem linken Unterarm, die aussehen wie eine ganze Menge von Impfnarben.

Um die Geschichte dieser Narben zu erzählen, holt er weit aus. „Ich bin gar kein Honduraner“, sagt er. „Ich bin Guatemalteke.“ Er wurde in einem Armenviertel von Guatemala-Stadt geboren und ist dort aufgewachsen. Wie die meisten Kinder aus solchen Vierteln weiß er nicht, wer sein Vater ist. Haushalt und Kinder, das ist Sache der Frauen. Die Väter kommen und gehen. Und so lebte in der Hütte von Gerardo eine Zeit lang auch ein Stiefvater. Das war ein großer Trunkenbold, der nicht nur die Mutter schlug, sondern auch die Kinder, die gar nicht seine waren. Mit acht Jahren hatte Gerardo genug. Er haute ab. Seither lebt er auf der Straße.

Gerardo bettelte oder bewachte, wenn sich die Gelegenheit ergab, für ein paar Pfennige ein geparktes Auto. Ab und zu klaute er auch eine Handtasche. Er sagt das nicht gern. Es ist ihm peinlich. „Ich war nie ein richtiger Dieb. Ich hatte immer Schiss vor der Polizei.“

Ein paar Mal ist Gerardo in Guatemala-Stadt von Polizisten verprügelt worden, bloß weil er in einer kalten und windigen Nacht im geschützten Eingang einer Ladenpassage schlafen wollte. Das war nicht weiter schlimm. An Prügel ist er gewohnt. Es passiert, und man vergisst es. So, wie Gerardo das genaue Datum seines Geburtstags vergessen hat. Was aber am 14. März 1993 passierte, das weiß er ganz genau. Dieses Datum wurde ihm in den Leib gebrannt.

Gerardo war an diesem Tag wie üblich zusammen mit einem Freund im Zentrum von Guatemala-Stadt unterwegs. Sie durchwühlten ein paar Abfallkübel nach Essensresten, bettelten ein paar Passanten an. In den Abendstunden wurden sie von zwei Männern in Zivil aufgehalten. Sie sagten, sie seien von der Polizei und wollten die Ausweise der beiden Jungen sehen. Aber Straßenkinder haben keine Papiere. Ohne Papiere, sagte einer der beiden Männer, müssen wir euch mit auf die Polizeistation nehmen. Das war das Zeichen zum Abhauen.

Gerardo und sein Freund rannten los. Die beiden Männer hinterher. Der Freund entkam. Aber Gerardo wurde geschnappt. Einer der Männer hielt ihn fest, der andere bog ihm den linken Arm auf den Rücken und drückte ihn so weit nach oben, daß Gerardo dachte: Er reißt mir den Arm ab. Dann zündete sich der Mann eine Zigarette an, zog daran, bis sie richtig glühte und drückte die Glut in den Unterarm des Jungen. Nicht nur einmal, sondern genau neunzehn Mal. Dann ließen die Männer von ihm ab.

„Ich weiß nur noch, dass das fürchterlich wehtat“, sagt er. Er habe so geschrien, dass sein Freund ihn hörte und zurückrannte. Zusammen gingen sie ins Armenkrankenhaus. Dort wurden seine Wunden von einem jungen Arzt ausgewaschen und behandelt. Und noch während Gerardo behandelt wurde, kamen zwei Männer in Zivil ins Krankenhaus. Sie wiesen sich als Polizisten aus und sagten, sie suchten nach einem verletzten Jungen. Die Beschreibung traf auf Gerardo zu.

Der junge Arzt reagierte schnell. Er führte Gerardo zu einem unbewachten Nebenausgang des Krankenhauses und sagte ihm, er solle so schnell wie möglich aus der Stadt verschwinden. Noch in derselben Nacht beschloss er, dass er nach Honduras abhaut, nach Tegucigalpa. Denn Straßenkinder brauchen eine große Stadt, um überleben zu können.

„Ich habe fast drei Wochen gebraucht. Ab und zu hat mich ein Bus mitgenommen, aber ich bin auch viel gelaufen. Und an der Grenze musste ich wegen der Soldaten einen großen Umweg machen und nachts durch einen Fluss auf die andere Seite. Aber ich bin angekommen.“ Darauf ist er noch heute stolz. Und auch darauf, dass er seither auf dem Markt eine „ehrliche Arbeit“ hat. „Ich habe nie mehr gestohlen. Ich will keinen Ärger mehr haben mit der Polizei.“ Denn die ist in Honduras nicht besser als in Guatemala. TONI KEPPELER