: Geraubt, verkauft, zu Tode gequält
Nach langen Bürgerkriegen haben Guerillas und Regierungen in Zentralamerika Frieden geschlossen. Der Krieg gegen Kinder geht unvermindert weiter
aus San Salvador TONI KEPPELER
Priestermorde, Massaker an der Zivilbevölkerung, Todesschwadrone, die ihre Opfer verstümmelt an den Ausfallstraßen der großen Städte öffentlich zur Schau stellen – die bekannten Schrecken der Bürgerkriege in Zentralamerika. Sie wurden in politischen Analysen untersucht, in den Berichten von Wahrheitskommissionen dokumentiert. Kinder als Opfer werden dabei allenfalls beiläufig erwähnt. Rigoberta Menchú, die guatemaltekische Maya-Aktivistin und Friedensnobelpreisträgerin von 1992, will das ändern. In einer kürzlich gemeinsam mit Unicef erstellten Studie über Kinder als Opfer des Bürgerkriegs in Guatemala (1960 bis 1996) heißt es: Jeder fünfte der rund 200.000 Toten des Kriegs war jünger als 18 Jahre.
Kinder, sagt Dietrich Gerlach, Geschäftsführer von Unicef Deutschland, „wurden bewusst zur Zielscheibe des Terrors gemacht“. Und sie sind es noch immer. Der Krieg gegen die Kinder in Zentralamerika geht auch nach den Friedensverträgen weiter. Weiterhin verschwinden hunderte unter dubiosen Umständen oder werden gegen horrende „Adoptionsgebühren“ verkauft. Jahr für Jahr werden weit über hundert Straßenkinder und Jugendliche zu Tode gefoltert.
„Die Todesschwadrone machen heute nicht mehr Jagd auf Oppositionspolitiker und Gewerkschafter, sondern auf kleine Ganoven in Jugendbanden“, sagt Bruce Harris, der Vorsitzenden des in Guatemala und Honduras arbeitenden Kinderhilfswerks Casa Alianza. Gregorio Rosa Chávez, Weihbischof in San Salvador, spricht gar von „sozialen Säuberungen“.
Kaum einer der rund 40.000 Toten des Bürgerkriegs in Guatemala im Kindes- oder Jugendalter wurde durch Schüsse umgebracht. Die allermeisten wurden langsam zu Tode gequält. Jedes dritte Vergewaltigungsopfer des Kriegs war ein Mädchen, das jünger als 17 Jahre war. Vor allem in den Jahren 1980 bis 1983 habe sich die Armee in einer „wahren Gewaltorgie“ auf die Minderjährigen gestürzt.
Kleinkinder von bis zu vier Jahren dagegen hatten Chancen, ein Massaker zu überleben. Sie waren und sind ein wertvolles Handelsgut. Vor kurzem veröffentlichte das Menschenrechtsbüro des Erzbistums Guatemala-Stadt eine Dokumentation über 295 verschwundene Kinder. 92 Prozent davon wurden von der Armee geraubt. „Sie wurden in Kasernen gebracht und dort zur Adoption angeboten“, sagt der Autor der Studie, Marco Antonio Garavito. Er geht von einer hohen Dunkelziffer aus.
In El Salvador hat die Selbsthilfegruppe Pro busqueda 598 Fälle von Kindesraub dokumentiert. 104 dieser Kinder wurden inzwischen gefunden, viele davon bei Adoptiveltern in den USA und Europa. Das salvadorianische Parlament hat unter anderem deshalb die Adoption von Kindern erschwert. In Guatemala aber geht das Geschäft mit dem Verkauf süßer Indiokinder ungebrochen weiter.
Unicef hat die 1.650 Adoptionen untersucht, die 1999 in Guatemala registriert wurden. Die Schlussfolgerung: In den allermeisten Fällen handelte es sich „nicht um einen Akt der Nächstenliebe, sondern um eine rein kommerzielle Angelegenheit“. Nur in 1 Prozent der Fälle wurden die Kinder von der leiblichen Mutter zur Adoption freigegegeben. 12 Prozent stammten aus Waisenhäusern. In 82 Prozent der Fälle waren die Mütter Bedienstete auf Landgütern von Notaren, die dann auch die juristischen Formalitäten übernahmen.
Das übliche Honorar für Adoptionen beträgt in Guatemala gut 50.000 Mark. Rund 200 Notare tummeln sich in diesem Geschäft. Das ergibt, statistisch gesehen, Einnahmen von mehr als 400.000 Mark pro Jahr für jeden von ihnen. Dabei bleibt unklar, ob die verkauften Kinder geraubt oder ob ihre Mütter zur Freigabe gedrängt wurden. Angesichts der feudalistischen Verhältnisse auf guatemaltekischen Landgütern macht dies kaum einen Unterschied.
Immerhin: Die verkauften Kinder leben. Straßenkinder dagegen werden heute von Todesschwadronen grausam verfolgt. Eine Dokumentation von Casa Alianza erzählt die Geschichte von 83 Folteropfern in Guatemala und 63 in Honduras. Mehr als die Hälfte davon hat die Qualen nicht überlebt. Die Studie ist alles andere als vollständig.
Allein in Honduras seien in den vergangenen fünf Jahren mehr als 700 Mitglieder von Kinder- und Jugendbanden ermordet worden, sagt Hugo Ramón Maldonado von der regierungsunabhängigen Menschenrechtsorganisation Codeh. Auch in El Salvador wurden in diesem Zeitraum weit über hundert Mitglieder von Jugendbanden ermordet.
Das Muster ist überall dasselbe: Die Opfer werden meist an einem Wochenende entführt. Man findet sie später in einer verlassenen Gegend. Die Hände mit Stacheldraht gefesselt, Folterspuren, ein Schuss aus nächster Nähe in Kopf oder Nacken. Ein paar wenige mutige Staatsanwälte behaupten, die Täter seien Todesschwadronen aus ehemaligen Militärs, die heute im Dienst von Geschäftsleuten die Einkaufszonen von Bettlern und kleinen Ganoven säubern. In den allermeisten Polzeiakten aber steht: Diese Toten sind Opfer von Auseinandersetzungen zwischen Jugendbanden. Keine Ermittlungen.
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