: Die Bisse der Katzenköpfe
Paris-Roubaix, der klassischste aller Radklassiker, führt zu einem Gutteil über Kopfsteinpflaster. Am Sonntag rasen die Fahrer wieder drüber. Doch die Holperstrecken sind in ihrem Bestand bedroht
von SEBASTIAN MOLL
Man greift gerne zu Kriegsmetaphern, wenn es darum geht, Paris-Roubaix zu beschreiben. Als „Hölle des Nordens“ gilt in Frankreich die rauhe, von Arbeitslosigkeit geprägte ehemalige Bergbauregion zwischen Valenciennes und Roubaix. Der Titel wurde ihr nach dem Ersten Weltkrieg verliehen, als der endlose Stellungskrieg Millionen Menschenleben kostete.
„L’Enfer du Nord“ ist auch zum Synonym für den kontroversesten, archaischten und bizarrsten Wettbewerb im Profi-Radsport geworden. Die berüchtigtste Passage des Rennens, die 2,4 Kilometer lange Kopfsteinpflaster-Schneise durch den Wald von Arenberg, wird „Schützengraben“ genannt. Der Name stammt ebenfalls aus dem Ersten Weltkrieg, als Elefanten hier Befestigungsholz für die deutschen Gräben durch den Wald zogen. Den Namen gefestigt haben zahllose erbitterte Radsportgefechte, zum Beispiel das von 1998.
Schwere Regenfälle hatten den Abschnitt in einen Morast verwandelt. Die Pflastersteine aus dem 19. Jahrhundert wurden für die Rennräder, die mit 40 Stundenkilometern hereingedonnert kamen, zu glitschigen, scharfkantigen Hindernissen. Fast alle Favoriten kamen zu Fall, zum Teil mit schweren Verletzungen. Am schlimmsten erwischte es den Belgier Johan Museeuw, den Sieger von 1996, der sich die Kniescheibe zertrümmerte und um sein Bein bangen musste. Nur 66 von 183 Startern kamen an diesem Tag ins Ziel, die Sportzeitung L’Equipe sprach von einem „Massaker“.
Museeuw behielt nicht nur sein Bein, er kam auch zurück. Im vergangenen Jahr gewann er zum zweiten Mal „La Roubaix“, wie die Fahrer das Rennen liebevoll und ehrfürchtig nennen, nach einem unglaublichen, 52 Kilometer langen Soloritt. Erik Zabel musste nachher zugeben, dass er auf die Attacke nicht reagiert hatte, weil er einen solch langen Ausreißversuch für aussichtslos hielt. Das soll ihm diesmal nicht wieder passieren.
Moderne Gladiatoren
Roubaix lebt von Männern wie Museeuw. Er verkörpert das proletarische Ethos des Radsports, das Heldenhafte der Selbstaufopferung. Viele Fahrer meiden deshalb die Fahrt, vor allem die 47,3 Kilometer über uraltes Kopfsteinpflaster. Am Sonntag wird das 254,5 km lange Rennen in Compiegne nördlich von Paris zum 99. Mal gestartet.
Als „Anachronismus“, als „modernes Gladiatorentum“ hat Rolf Aldag die Strecke schon beschimpft. Anders sehen es die Fans des Rennens, wie der frühere Sportdirektor von Mapei, Patrick Lefevere: „Muss denn alles modern sein?“, fragt er. Und Rudy Pevenage, Sportchef bei Telekom, ist der Meinung: „Roubaix muss sein!“ Das meint auch Jean-François Pescheux, der Direktor der Société du Tour de France. „Monsieur Pavé“ wird er genannt, weil er seit Jahren einen unerbittlichen Kampf um den Erhalt der 24 Kopfsteinpflasterpassagen führt.
Als die Roubaiser Industriellen Maurice Perez und Theo Vienne das Rennen 1896 ins Leben riefen, um ihr neu erbautes Velodrom – in dem bis heute der Zielstrich liegt – ins Rampenlicht zu rücken, führte noch kein anderer Weg von Paris in den Norden als über die Katzenköpfe aus bretonischem Granit. Heute versinken viele der Pflasterstraßen, sind für die Gemeinden nur noch ein Ärgernis. Befahrbar sind sie kaum noch, und sie zu restaurieren fehlt das Geld.
Um dem Rennen seinen traditionellen Untergrund zu bewahren, hat Pescheux mit dem Veloclub Roubaix eine Initiative gestartet. „Ich brauche die 50 Kilometer Kopfsteinpflaster für das Rennen“, so Pescheux. „Und die möchte ich bis zur 100. Austragung im nächsten Jahr dauerhaft gesichert haben.“ Das Ministèrè de Jeunesse et Sport und das Tourismus-Ministerium hat er für seine Sache gewonnen.
Im Wald von Arenberg ist der Erhalt des Pflasters bereits gelungen. Die Straße ist in Privatbesitz, denkmalgeschützt und führt zu einem Grubenmuseum, zur selben Grube, in der das Epos „Germinal“ von Emile Zola verfilmt wurde. Bis die übrigen 48 Kilometer gesichert sind, liegt jedoch noch ein hartes Stück Arbeit vor Pescheux. Wenn eine Gemeinde den Kopfsteinpflasterabschnitt partout betonieren will, sollen die Abschnitte mit nationalen Mitteln und Geldern des Departements ein paar Kilometer entfernt neu verlegt werden. Dazu braucht man jedoch neben Geld vor allem Handwerker, die etwas vom Straßenbau des 18. und 19. Jahrhundert verstehen. „Es entsteht die Möglichkeit, ein traditionsreiches Handwerk wieder aufleben zu lassen“, sagt Jean-Claude Vallaeys, Vorsitzender des Veloclub Roubaix und wie Pescheux auf der Suche nach der verlorenen Zeit.
Und ganz unbegründet ist der Optimismus nicht. Denn die Region, die an kulinarischen, landschaftlichen und kulturellen Attraktionen arm ist wie keine andere in Frankreich, braucht das Qualitätsprodukt Paris-Roubaix. Nicht zuletzt deshalb haben sich die Ministerien in Paris überzeugen lassen. Paris-Roubaix muss sein, das hat man auch in der Hauptstadt erkannt.
Den Erhalt eines Anachronismus zur nationalen Angelegenheit zu machen, ist Pescheux gelungen. Dem Radsport bleibt somit eines seiner liebsten Monumente erhalten und überdies eine seiner produktivsten Legendenmaschinen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen