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Freiheit statt Dummheit

Für den Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen ist Armut nicht nur ein ökonomisches Problem, sondern eine der „Verwirklichungschancen des Menschen“. In seinem neuen Buch hat er deshalb eine „Ökonomie für den Menschen“ formuliert

von WARNFRIED DETTLING

Im Jahre 1989 begannen aufregende Zeiten und langweilige Debatten: Der Kapitalismus hatte gesiegt, der Sozialismus war tot – das „Ende der Geschichte“ (Fukuyama) erreicht. Tertium non datur. Die neuen Märkte und Demokratien besorgten sich ihre geistigen Importe aus den USA, während das alte Europa (West) ideenpolitisch in einem wichtigen Moment der Geschichte versagt hatte. Dabei hätten es die Europäer aus eigener Erfahrung besser wissen können: Es gibt nämlich verschiedene Formen des Kapitalismus, zwischen denen eine Gesellschaft wählen kann, und Kapitalismus pur ist auf Dauer nirgendwo erfolgreich.

Das ist die Botschaft eines brillanten Buchs, das der 1933 in Indien geborene und jetzt in Cambridge lehrende Wirtschaftswissenschaftler Amartya Sen nun vorgelegt hat. Es gehört zu den wichtigsten, die seit langem über Wirtschaft und Gesellschaft, über Kapitalismus, Solidarität und Demokratie erschienen sind. Sens wissenschaftlicher Rang ist weltweit unbestritten. Im Jahre 1998 erhielt er den Nobelpreis für seine Arbeiten zur Wohlfahrtsökonomie und zur Theorie der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung. Ebenso bedeutsam aber ist sein Werk für eine Neukonzeption der Entwicklungs-, Gesellschafts- und Sozialpolitik.

Sen bietet eine umfassende und differenzierte Analyse der Gründe für den Erfolg einer Marktwirtschaft. Meist wird er ja zurückgeführt auf den Marktmechanismus, den Wettbewerb und das Prinzip der Gewinnmaximierung. Sen weist nach, dass überall auf der Welt zusätzliche und zwar nichtmarktliche Institutionen wie etwa ein entsprechendes Bildungs- und Gesundheitswesen, Rechtsstaat und freie Meinungsäußerung ebenso wichtig sind. So ordnet Sen die Wirtschaft ein in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge und die großen Widersprüche der Zeit: „Wir leben in einer Welt, deren beispielloser Überfluss selbst vor einhundert oder zweihundert Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre. Und doch leben wir auch in einer Welt, in der Mangel, Armut und Unterdrückung herrschen.“

Die übliche Antwort auf diese Probleme besteht in dem Ruf nach Solidarität und Gerechtigkeit. Diese Werte liegen auch Sen am Herzen. Aber anders als viele „soziale“ Denker betont er die Bedeutung verschiedener Formen von Freiheit bei der Bewältigung des Elends. „Wenn wir die uns bedrängenden Probleme lösen wollen, müssen wir in der Freiheit des Einzelnen ein soziales Gebot sehen.“ Damit wendet er sich gegen zwei mächtige Strömungen. Die einen feiern den Kapitalismus als das Reich der Freiheit, ohne nach deren sozialen Voraussetzungen zu fragen, und die anderen beklagen das Unrecht in der Welt, dem sie mit staatlichen Eingriffen und materiellen Transfers zu Leibe rücken wollen. Sen bestreitet nicht, dass beide Strategien notwendig sind, aber er kann nachweisen, dass sie in keinem Falle ausreichen, ja dass sie ihre guten Absichten gerade verfehlen, wenn sie nicht in der Perspektive der Freiheit gedacht und gestaltet werden.

In dieser Perspektive („Entwicklung als Prozess der Erweiterung realer Freiheiten“) lassen sich dann Kriterien formulieren, die über Bruttosozialprodukt und Einkommen hinausgehen. Entwicklung ist mehr als Wirtschaftswachstum, Industrialisierung, Sozialtransfers. Wenn etwa schwarze Amerikaner nicht nur gegenüber den weißen Amerikanern unter einem relativen Mangel hinsichtlich des Pro-Kopf-Einkommens leiden, sondern auch absolut schlechter dastehen als die weniger verdienenden Inder aus Kerala und die ärmeren Chinesen oder die Bewohner Sri Lankas; wenn trotz des sehr niedrigen Einkommensniveaus sich die Bewohner dieser Länder einer beträchtlich höheren Lebenserwartung erfreuen als die sehr viel reichere Bevölkerung Brasiliens, Südafrikas oder Namibias – dann heißt das für Sen: Eine „auf das Einkommen bezogene Sichtweise ist unbedingt ergänzungsbedürftig, damit wir zu einem umfassenden Verständnis des Entwicklungsprozesses kommen“. Die Auswirkung des Wirtschaftswachstums (selbst für die künftige ökonomische Performance eines Landes) hängt davon ab, wie dessen Früchte verwandt werden. So hat Japan zum Beispiel zwischen 1906 und 1911 immerhin 43 Prozent der Haushaltsmittel der Städte und Dörfer für Bildung ausgegeben. Diese Stärkung des öffentlichen Bildungswesens war einer der wichtigsten Faktoren, die zur wirtschaftlichen Entwicklung Japans beitrugen.

Amartya Sen blickt hinter die Fassaden äußerlicher Erfolgsbilanzen und hinter die Täuschungen von Aggregatzahlen. Von Hungersnöten, so weist er nach, ist immer nur eine Minderheit wirklich betroffen – und zwar sind es jene, denen es auch vorher schon schlecht ging, weil sie keine Stimme hatten, sich Gehör zu verschaffen. Etwas Ähnliches könnte man auch von den knapp 4 Millionen Arbeitslosen in Deutschland sagen.

Sen fragt nach Zielen und Zwecken einer Entwicklungspolitik, die ja auch entwickelte Länder nötig haben, und er ist offen, Methoden und Strukturen zu ändern, wenn sie sich als kontraproduktiv erwiesen haben. Beides ist nötig, um aus den Sackgassen auch der hiesigen Sozialpolitik herauszukommen. Wenn man Armut beispielsweise nicht nur als Einkommensarmut, sondern vor allem als einen „Mangel an Verwirklichungschancen“ begreift, dann lassen sich intelligente Reformperspektiven ableiten und lässt sich der real existierende Sozialstaat aus sozialen Gründen kritisieren: Es gibt Methoden der Armutsbekämpfung, die die Ursachen nicht beseitigen, sondern verstärken; die die Chancen der Menschen mindern und nicht mehren.

Diese Position steht quer zu gängigen Methoden: die Sozialhilfe kürzen, um das „Abstandsgebot“ einzuhalten; die Sozialhilfe erhöhen, um die Armut zu beseitigen; alles so lassen, wie es ist, nur ab und zu über „Drückeberger“ und „Faulenzer“ schimpfen. Sen kritisiert den amerikanischen Skandal, dass Millionen ohne soziale Krankenversicherung sind. Und er kritisiert den europäischen und deutschen Skandal, dass man sich mit Millionen von (Langzeit-)Arbeitslosen abfindet. Manchen sozialen Säulen der Gesellschaft sind die Strukturen des Status quo wichtiger als die „Bekämpfung der Arbeitslosigkeit.“ Ganz so brutal formuliert es Sen nicht, denn er ist ein höflicher Mensch.

Amartya Sen hat ein konzeptionelles Buch vorgelegt, eine unverzichtbare Anregung für den aktuellen politischen Diskurs. Man möchte den Politikern raten, dieses Buch gründlich zu lesen und zu diskutieren. Sens Ideen könnten dazu beitragen, dass die politische Debatte etwas intelligenter geführt wird. Schließlich ist auch öffentliche Dummheit ein Standortnachteil.

Amartya Sen: „Ökonomie für denMenschen. Wege zu Gerechtigkeitund Solidarität in der Marktwirtschaft“. 424 Seiten, Carl Hanser Verlag,München/Wien 2000, 45 DM

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