strafplanet erde: nationalstolzwochen
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von DIETRICH ZUR NEDDEN

Öffentliche Gespensterdebatten, die im Teufelskreis vorwiegend der Feuilletons kursieren, erlebe ich privat so: Bevor ich etwa drei bis fünf Gedanken dazu formuliert habe, die nicht so aussehen, als ob man sie schon irgendwo gehört oder gelesen hat, ist die Sau längst durchs Dorf getrieben und nur mehr ihr Ringelschwänzchen zu sehen. Streng genommen dürfen wir also ganz und gar nicht mehr über Stolz, Vorurteil und das Lob des Müßiggangs reden. Streng chronologisch jedoch ist es erst eine gute Woche her, dass ich Fans des Hamburger SV durch die niedlichen Gassen der südbadischen Metropole Freiburg tapsen sah und ihren Ruf vernahm: „Norddeutschland, Norddeutschland“. Es liegt nahe, daraus zu schließen, dass die Fischköppe stolz sind, Norddeutsche zu sein, und dies den Bobbeles meinten kundtun zu müssen. Hoffentlich weil es so absurd und sinnfrei war, scherte sich niemand drum.

Wenige Tage später fasste Robert Gernhardt beide Enden der einerseits parabel- und zwanghaften, inzwischen allseitigen Äußerungen zusammen und prägte einen Satz, der, als Bekenntnis verstanden, aber auch als Mahnung jederzeit zitiert werden kann: „Ich bin zu faul, ein Deutscher zu sein.“

Und dann kam der „Norbert“. Das steht auf dem Schild, hinter dem Norbert Blüm sitzt, wenn er versucht, Fragen zu formulieren, auf die man nur mit Ja oder Nein antworten kann. Norbert Blüm gehört zum Rate-Quartett bei der Originalkopie von „Was bin ich?“. Da ist einer sechzehn Jahre lang bundesdeutscher Arbeitsminister, aber erst im Ruhestand findet er die Rolle seines Lebens beim „heiteren Beruferaten“. Entsprechend könnte man einen Ableger der Sendung kreieren: „Was war ich?“

Kandidaten sind vom Arbeitsamt zwangsweise dorthin beorderte Arbeitslose, die ein Stellenangebot abgelehnt haben. Die Eingangsfrage an sie muss ritualisiert sein: „Sind Sie faul?“ Der „aktivierende Staat“, dessen soziales Netz ein „Trampolin“ ist und keine „Hängematte“ – in dieser Form könnte er ungeahnte Höhen erreichen. Für mich ging’s nach unten.

Es war keine Woche seit der Begegnung mit den HSV-Fans vergangen, da suchte ich in einem fremden Keller nach Wasser. „Ein reines Wasser muss durch einen tiefen Stein“, brummt es derzeit in einer Fernsehwerbung, aber nicht dieser Hinweis hatte mich in den Untergrund getrieben, sondern, dass der Gastgeber am Herd unabkömmlich war. Neben der Mineralwasserkiste stand ein Karton mit aussortierten Büchern. Dort stieß ich auf „Mein Kampf“. (Unser Gastgeber hatte es, wie sich herausstellte, zu Studienzwecken benötigt.) Ich hatte das Buch nie in der Hand gehabt und blätterte herum. So ein hysterischer, brutal-dumpfer Knalltütenquatsch war auf eine, man kann schon sagen, so folgenreiche Resonanz bei mindestens der Hälfte der deutschen Bevölkerung gestoßen? Ein derartiger Scheißdreck, stilistisch erbärmlich und gedanklich so weit im Minus, dass es nicht mehr messbar ist? Im Register das Stichwort „Nationalstolz, Gründe des Mangels an N., Seite 31“. Ende der Debatte.