Erwachsen, wann das Recht will

Morgen wird Ruslan Umarow 18 Jahre alt. Doch er freut sich nicht. Denn mit der Volljährigkeit sinken seine Chancen, Asyl in Deutschland zu bekommen

aus Warschau GABRIELE LESSER

„Was habe ich falsch gemacht? Ich wollte doch nur zu meiner Mutter. Und dafür habe ich jetzt drei Monate im Gefängnis gesessen?“ Ruslan Umarow presst die Lippen zusammen. Morgen wird er achtzehn Jahre alt. Früher hat er sich auf diesen Tag gefreut. Doch nun sitzt er mutterseelenallein in Polen, im Wald bei Dębak in der Nähe Warschaus. Das Asylbewerberheim war früher eine Kaserne. In dem schmalen Raum stehen acht Etagenbetten. Über der Tür hängt eine kleine tschetschenische Fahne. Ein kräftiger kleiner Mann stößt Ruslan aufmunternd in die Seite: „He, wird schon werden!“ Dann sagt er zu den Besuchern: „Er heult jede Nacht. Der Krieg, na, Sie verstehen schon. Er will zu seiner Mutter.“ Der Junge zieht die Brauen zusammen, sieht ihn vorwurfsvoll schweigend an, tippt verlegen mit dem Fuß an den Bettpfosten: „Das hätte er jetzt nicht zu sagen brauchen.“

Ruslans Vater, schwer verletzt im Tschetschenienkrieg, hat den Jungen aus dem Haus gejagt: „Was willst du noch hier? Grosny ist kaputt. Das ist nicht mehr dein Zuhause. Die Russen knallen dich ab, sobald du ein Maschinengewehr halten kannst. Geh endlich, geh doch!“ Vor fünf Jahren floh Ruslans Mutter. Die Eltern ließen sich scheiden, als Ruslan sechs Jahre alt war. Sie wollte den Jungen nachholen, sobald sie einen sicheren Ort fand. Doch Ruslan wollte den Vater nicht im Stich lassen, schon gar nicht, als der mehr tot als lebendig aus den ersten Gefechten zurückkam.

Die Familie lebt in Hamburg

Ruslans Mutter Sara Umarow lebt in der Nähe Hamburgs. Sie hat erneut geheiratet. Und Ruslan hat einen kleinen Bruder, den er vor wenigen Monaten zum ersten Mal gesehen hat. „Das war in Stettin im Gefängnis. Das war mir peinlich. Da sieht man seinen Bruder zum ersten Mal – hinter Gittern! Er denkt sicher, dass ich ein Dieb bin oder ein Verbrecher.“ Die deutschen Grenzbeamten haben den Siebzehnjährigen, der in Deutschland um Asyl bitten wollte, nach Polen – ins sichere Drittland – abgeschoben. Es interessierte sie nicht, dass in Deutschland bereits die Familie Ruslans lebte. Seine Mutter, der Stiefvater, der kleine Bruder sind Tschetschenienflüchtlinge mit Duldungsstatus. Es interessierte sie auch nicht, dass Ruslan erst siebzehn war und daher nach UN-Kinderrechtskonvention besonderen Schutz genoss. Dass es sie nicht interessierte, hat mit deutschem Recht zu tun. 1992 ratifizierte die Kohl-Regierung die UN-Kinderrechtskonvention nur mit einem „Vorbehalt“. Und so sind nach deutschem Recht Flüchtlingskinder bereits mit sechzehn erwachsen. Für die Siebzehn- und Achtzehnjährigen gibt es keinen Rechtsschutz mehr, keine Fürsorge, keine Familienzusammenführung.

„Es war eiskalt. Klar, mitten im Dezember. Aber was sollten wir machen? Wir sind durch den Fluss geschwommen, waren schon auf der anderen Seite, aber dann waren da die Grenzschutzanlagen. Wir haben uns nicht bewegt, immer nur überlegt, was wir tun sollen. Es wurde immer kälter. Unsere Kleider waren nass. Fast wären wir erfroren. Da haben wir uns den Deutschen gestellt.“ Ruslan erzählt stockend. Die Deutschen hätten ihn einen „Banditen!“ genannt und ihm Handschellen anlegen wollten. „Ich habe ihnen zugeschrien, dass ich zu meiner Mama will. Dass sie bei Hamburg lebt. Da haben sie mich in eine Einzelzelle gesperrt mit Kameraüberwachung.“ Zwei Tage später war er wieder in Polen. Dort schärften ihm die Grenzer ein, dass er für drei Monate in den Arrest komme, wenn er noch mal beim Grenzübertritt erwischt werde, und wenn er es dann wieder versuche, lande er für fünf Jahre im Gefängnis und werde danach abgeschoben.

„Als die Polen mich freigelassen haben, bin ich sofort wieder über die Grenze. Ich habe gedacht, wenn ich erst in Deutschland bin, wird alles gut. Das weiß doch jeder, dass Deutschland eine Demokratie ist.“ Diesmal hatte er sich einer Gruppe von fünfundzwanzig Tschetschenen angeschlossen, Frauen, Kinder, Männer, die bei Szczecin (Stettin) über die grüne Grenze gingen.

Drei Monate Abschiebehaft

Er hatte wieder Pech. Als die Deutschen ihn erneut nach Polen auswiesen, kam er dort in Abschiebehaft. Eigentlich hätte dem Jungen nach polnischem Recht ein Vormund zugestanden, da Polen anders als Deutschland auch ausländische Kinder bis zum achtzehnten Lebensjahr als Kinder behandelt. Eigentlich hätte er sofort nach Dębak ins zentrale Asylbewerberheim gebracht werden müssen. Doch da die Deutschen Ruslan als „Erwachsenen“ abgeschoben hatten, behandelten ihn auch die Polen als Erwachsenen.

Grażyna Nareńska, die Sozialarbeiterin im Asylbewerberheim Dębak, sieht den schlaksigen Jugendlichen mitleidig an: „Die drei Monate Abschiebehaft im Gefängnis von Piła haben ihm ziemlich zugesetzt. Noch dazu nach den furchtbaren Erlebnissen im Tschetschenienkrieg.“ Die junge Frau deutet aus dem Fenster. Eine Familie mit drei Kindern geht vorbei. Über siebzig Prozent aller Asylbewerber in Dębak sind Tschetschenen. Da sie vor dem Krieg flüchten, nicht aber, weil sie politisch verfolgt werden, bekommt kaum jemand von ihnen Asyl. „Wir schicken sie nicht zurück. Aber sie haben kaum eine Chance. Nach der Ablehnung stehen sie hier auf der Straße. Ohne Geld, ohne Arbeit, ohne ein Dach über dem Kopf. Zwei Jahre geht das schon so.“ Die Sozialarbeiterin seufzt. Sie legt die dünne Personalakte „Ruslan Umarow“ auf den Tisch und starrt an dem Jungen vorbei auf den bunten Vorhang, der sich im Wind bläht. Besonders schlecht seien allein reisende Kinder und Jugendliche dran, sagt sie. „Das ist eine Gesetzeslücke. Es gibt sie nicht. Irgendwie hat man sie vergessen.“

„Für Kinder ist Polen kein sicherer Drittstaat“, sagt Wojciech Trojan von der Warschauer Vertretung des Internationalen Flüchtlingswerks UNHCR. „Im letzten Jahr sind dreizehn unbegleitete Kinder nach Polen abgeschoben worden, 1999 waren es vierzig Kinder. Das sind keine großen Zahlen, aber . . .“ Trojan steht auf und sucht im Aktenschrank seines modern eingerichteten Büros nach einem ganz bestimmten Ordner. „Hier“, sagt er und legt den Aktenordner auf den Tisch. „Diese Statistik haben wir vom polnischen Grenzschutz bekommen. Hier sind die Zahlen, und hier – unter Punkt zehn steht schwarz auf weiß: ,Alle in dieser Aufstellung aufgeführten Kinder sind weggelaufen.‘ “ Demnach hat Polen als so genannter sicherer Drittstaat in den letzten zwei Jahren insgesamt dreiundfünfzig unbegleitete Kinder zurückgenommen, und alle Kinder sind spurlos verschwunden.

Vertrauen in die Deutschen

Im Innenministerium ist der Fall Umarow bekannt. Die Akte, die in der Abteilung Grenzschutz, Migration und Flüchtlingswesen geführt wird, ist wesentlich dicker als die im Asylbewerberheim in Dębak. Der Direktor Jan Węgrzyń gibt zu, dass die Behörden einen Fehler gemacht hätten, als sie Ruslan von den Deutschen als „Erwachsenen“ überahmen. Zwar hat der Junge immer angegeben, am 19. April 1983 geboren zu sein, doch da es kein offizielles Dokument gab, habe man den Deutschen vertraut und dabei vergessen, dass für diese ausländische Kinder früher erwachsen würden als solche mit deutschem Pass. Erst als der deutsche Anwalt des Jungen eingriff und gegen die bereits angesetzte Deportation nach Russland protestierte, habe der Grenzschutz Zweifel bekommen und ein Knochengutachten in Auftrag gegeben.

„Natürlich“, versichert Węgrzyń, „wäre der Junge nicht weiter nach Russland abgeschoben worden. Tschetschenen bekommen zwar in der Regel kein Asyl in Polen, aber wir schieben sie nicht ab.“ Dass der Junge auf der Deportationsliste nach Russland gestanden habe, sei ein Versehen gewesen, das man auch ohne den Anwalt schnell korrigiert habe. Allerdings habe der Grenzschutz dann dem ärztlichen Gutachten zu sehr vertraut. Aus dem Röntgenbild der Hand Ruslans hätten die Ärzte auf einen Zwanzig- bis Vierundzwanzigjährigen geschlossen. Węgrzyń zuckt bedauernd die Schultern: „Und so hat der Junge dann drei Monate lang in Abschiebehaft gesessen. Nach Aktenlage sieht es schlecht aus für ihn. In wenigen Tagen wird er tatsächlich erwachsen. Dann wird er erst recht nicht mehr zu seiner Mutter können.“

In Dębak geht wieder ein Tag des Wartens zu Ende. Stundenlang hat Ruslan das kleine Bild seiner Mutter angestarrt. Er zittert am ganzen Körper: „Was soll ich in Polen? Ich will hier kein Asyl. Wenn die Deutschen und die Polen mich nicht zu meiner Mutter und meinem Bruder lassen, dann gehe ich eben zurück nach Grosny und lasse mich von den Russen erschießen. Dann wird endlich Ruhe sein.“