: Mächtige Graswurzeln
Alle reden von Globalisierung, manche machen sie. Inzwischen hat sich eine internationale Gegenbewegung formiert. Sie hat Furore gemacht, zuletzt in Seattle, in Davos und in Porto Alegre. Doch was kann die Gegenbewegung wirklich erreichen?
von GERHARD DILGER
Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten.
(Graffito in Berlin-Kreuzberg)
1990 verkündete Francis Fukuyama, ein Politologe von der US-amerikanischen Ostküste, das „Ende der Geschichte“. Die Mauer war gefallen, die Sowjetunion in Auflösung begriffen, Nicaraguas Sandinisten waren nach einem jahrelangen Zermürbungskrieg abgewählt. Kanzler Helmut Kohl entdeckte mit einem Mal den Regenwald, und wenig später, auf dem Umweltgipfel von Rio, outeten sich die Staatsoberhäupter der Welt als Fans der nachhaltigen Entwicklung. Den „Entwicklungs- und Umweltbedürfnissen heutiger und künftiger Generationen“ solle in „gerechter Weise entsprochen“ werden, heißt es in der „Erklärung von Rio“.
Die Verknüpfung des Umweltgedankens mit dem Gerechtigkeitsaspekt, und das im politischen Mainstream, hätte durchaus als bahnbrechend gelten können, wären den schönen Worten Taten gefolgt. Doch der eigentliche Rahmen für die neue Weltordnung nach dem Kalten Krieg wurde derweil still und leise gezimmert und 1994 in Marrakesch der Weltöffentlichkeit präsentiert: Zum Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Weltbank, die seit je von einer Hand voll westlicher Industrienationen dominiert waren, gesellte sich die Welthandelsorganisation (WTO). Der US-Grüne Ralph Nader kennzeichnet deren Regelwerk als „Wettlauf nach unten“, nicht nur in Bezug auf unseren Lebensstandard, etwa über sinkende Umwelt- und Gesundheitsgarantien, sondern auch im Hinblick auf die Zukunft der Demokratie.
Die Regeln der WTO, die bereits in Kraft sind, bedeuten eine schleichende Entmachtung der Nationalstaaten, besonders der Entwicklungsländer. Auch wenn das geheim ausgehandelte Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) vorerst gestoppt wurde, stehen als Gewinner der letzten Jahre die transnationalen Konzerne fest.
Dieser Umstand wird übrigens in den USA viel lebendiger und tabufreier diskutiert als etwa in Deutschland. Lohnsenkungen, der Abbau des Sozialsstaats, die Schaffung von Billigarbeitsplätzen, Steuergeschenke an die Multis – all das, was der „Sachzwang Weltmarkt“ angeblich auch in den Ländern des Nordens verlangt, geht in Wirklichkeit auf politische Weichenstellungen zurück, bei denen Europas Regierungen ein gewichtiges Wörtchen mitzureden haben.
Die Auslandsverschuldung der Dritten Welt bricht unterdessen jedes Jahr neue Rekorde, so dass für die meisten Länder jegliche Chance auf eine eigenständige Entwicklung von vornherein verbaut ist. 1,2 Milliarden Menschen müssen mit weniger als einem Dollar pro Tag auskommen. Die Länder des Nordens, die rund ein Fünftel der Weltbevölkerung beheimaten, verbrauchen über siebzig Prozent der Energie und verfügen über achtzig Prozent des Welteinkommens.
Und auch innerhalb der Länder öffnet sich die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter: In Brasilien besitzt das reichste Prozent so viel wie die ärmere Hälfte der Bevölkerung; in Deutschland fließt die Hälfte des gesamten Nettoeinkommens auf die Konten der oberen zehn Prozent.
Die Rio-Thematik „Umwelt und Entwicklung“ ist mehr denn je in die Sonntagsreden der Politiker verbannt. Schon unter Clinton/Gore waren die USA der Hauptbremsklotz einer globalen Umweltpolitik. George W. Bush hat nun in aller Offenheit die Interessen der US-Industrie zur obersten Maxime seiner und damit der Weltpolitik deklariert.
In Europa bleibt es den Sozialdemokraten überlassen, der Bevölkerung den Neoliberalismus in der abgeschwächten Variante des „dritten Wegs“ schmackhaft zu machen. Und die rot-grüne Bundesregierung exekutiert eine Außenpolitik, die noch hinter jene der Ära Kohl/Genscher zurückfällt. Der Entwicklungsetat verkümmert, während über Hermesbürgschaften weiterhin sozial und ökologisch unsinnige Großprojekte in den Ländern des Südens abgesichert werden.
Im Westen also nichts Neues? Doch – jenseits der etablierten Politik keimt Hoffnung. Das Scheitern der dritten WTO-Ministerrunde Ende 1999 in Seattle, zu dem die Delegierten aus der Dritten Welt und die fünfzigtausend DemonstrantInnen auf der Straße gleichermaßen beitrugen, war der Wendepunkt.
Die Gegenbewegung zur neoliberalen Globalisierung formiert sich weltweit: Im vorigen Jahr folgten die Proteste beim Frühlingstreffen von IWF und Weltbank in Washington, bei der Jahrestagung der Asiatischen Entwicklungsbank in Chiang Mai (Nordthailand), bei dem Regionaltreffen des Davos-Forums in Melbourne und schließlich bei der IWF/Weltbank-Jahrestagung in Prag, die vorzeitig beendet wurde. Auf der Gegenseite machen sich Stillstand und Ratlosigkeit breit, wie sich etwa am Scheitern der Klimakonferenz in Den Haag ablesen lässt.
Anfang dieses Jahres versammelte sich auf dem ersten Weltsozialforum im brasilianischen Porto Alegre ein buntes Spektrum von AktivistInnen aus aller Welt, um sich auszutauschen und über das weitere Vorgehen zu beraten. Das „Netzwerk zur demokratischen Kontrolle der internationalen Finanzmärkte“, ATTAC, wichtiger Akteur in Porto Alegre, gewann neue AnhängerInnen für die Idee, transnationale Finanzströme zu besteuern („Tobinsteuer“).
Mit dieser alten, durchaus reformistischen Idee war übrigens Brasiliens Präsident Cardoso zuvor bei seinen sozialdemokratischen Kollegen ins Leere gelaufen. Die VertreterInnen des Kleinbauern-Dachverbands „Via Campesina“ forderten, Saatgut zum „Erbe der Menschheit“ zu erklären – ein Vorstoß gegen die Chemie- und Agrarmultis, die über die Gentechnik die Verfügungsgewalt über die landwirtschaftliche Produktion monopolisieren wollen.
Die Vernetzung von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, linken Parteien, NGOs, Umwelt- und Verbraucherorganisationen hat allerdings eben erst begonnen. Vieles läuft noch neben- statt miteinander. Der Widerstand muss lokal, regional und national weitergehen. Nur so, von unten, können die Gegenkräfte zum Neoliberalismus durchaus globale Wirkungen entfalten.
Deutschland verharrt selbst im zwölften Jahr nach dem Mauerfall in kollektiver Nabelschau, und das Wirken der Grünen in der Regierung ist auch nicht gerade ein Ansporn für die Reste der Anti-Atomkraft-, Friedens- und Dritte-Welt-Bewegungen. Doch die Erkenntnis setzt sich durch: Die Grünen sind in der „Mitte“ angekommen, Widerstand und Bewegung müssen anderswo entstehen.
Wie kann es weitergehen? Was haben uns AktivistInnen und Intellektuelle aus anderen Teilen Europas und der Welt zu sagen? Gibt es in Deutschland Ansatzpunkte, um den Internationalismus aus seinem Dornröschenschlaf zu wecken, ohne in lieb gewonnene Rituale vergangener Jahrzehnte zu verfallen? Wie gestalten wir das Zusammenleben innerhalb der „Festung Europa“?
Viele offene Fragen, doch eines steht fest: Nie hatte Herr Fukuyama weniger Recht als heute.
GERHARD DILGER, 41, ist taz-Korrespondent in Brasilientaz-Forum: Mit wem wollen wir teilen?Mit: Madjiguène Cissé, Sprecherin der französischen Sans Papiers, Senegal; Mathias Greffrath, Journalist; Philipp Hersel, ATTAC; Sergio Ramírez, Schriftsteller, Exvizepräsident Nicaraguas; Claudia Roth, Parteichefin der Grünen; Vandana Shiva, Ökofeministin, Indien. Moderation: Daniela Weingärtner, taz-EU-Korrespondentin, Brüssel. Samstag, 28. April, 19 Uhr
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