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Kranke stören nur

Gesundheitsministerin Ulla Schmidt ist bald 100 Tage im Amt. Bislang hat sie wichtige Entscheidungen vertagt. Doch ohne Reform bricht das Gesundheitssystem auseinander

Ein solidarischesGesundheitswesen ist nicht allein durch Effizienz und Umverteilung zu sichern

„Unsere Intensivstation ist belegt“, diese Notlüge ist beliebt an deutschen Klinikpforten. Schwer verletzte Unfallopfer sind in den Kliniken nicht gern gesehen, denn sie gelten als unkalkulierbares Risiko. Schließlich wird bei vielen nur ein Teil der Kosten von den Krankenkassen getragen.

Von solchen Härten, wo medizinische Hilfe und Sparzwänge kollidieren, will die neue Gesundheitsministerin Ulla Schmidt nichts wissen. Sie schreibt lieber die Illusion fort, dass eine solidarische Absicherung von Krankheitsrisiken auch weiterhin möglich ist, ohne Prioritäten bei der medizinischen Versorgung zu setzen. Die gesetzlichen Leistungen der Krankenkassen würden nicht auf eine bloße Grundversorgung reduziert, beruhigt sie Wahlvolk und SPD-Basis. Ärzte und Pharmaindustrie wiederum versucht sie mit der Ankündigung zu ködern, dass die Kostenbudgets gelockert würden.

Dabei sind die großen Ersatzkassen und die AOK längst in einem Teufelskreis gefangen: Allein im letzten Jahr haben sie über eine Million Mitglieder verloren, seitdem die Kassenwahl freigegeben wurde. Vor allem gesunde Jüngere und gut informierte Einkommensstarke wechseln nun verstärkt zu den Betriebskrankenkassen, die deshalb immer günstigere Beitragssätze offerieren können. Für Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger lohnt sich hingegen ein Wechsel nicht: Ihre Beiträge finanziert ohnehin die öffentliche Hand. Und auch Ältere und chronisch Kranke hängen an ihrer AOK oder Ersatzkasse. Das zwingt diese zu Beitragserhöhungen, die wiederum weitere zahlungskräftige Mitglieder vergraulen.

Aus Kostengründen buhlen die Kassen daher nur um die Gunst der Gesunden. Kranke hingegen gelten als Störfaktor. Um nicht „unerwünschte“ Mitglieder anzuziehen, engagiert sich keine Kasse für eine verbesserte Betreuung chronisch Kranker. Dabei sind Behandlungsmängel offenkundig: Rund die Hälfte der Zuckerkranken gilt als medizinisch unterversorgt. Und selbst bei gravierenden psychischen Erkrankungen mangelt es – wie jüngst etwa für das Saarland belegt – an einer kassenfinanzierten Basisversorgung.

Um die unterschiedlichen Kostenbelastungen der Krankenkassen auszugleichen, wurde der Risikostrukturausgleich geschaffen. Ab 2007 soll er auch die tatsächliche „Krankheitsanfälligkeiten“ der Mitglieder berücksichtigen – einen entsprechenden Referentenentwurf will Ulla Schmidt demnächst vorlegen. Doch wird auch dieser Rettungsversuch scheitern, denn es ist eine Illusion zu glauben, dass ein solidarisches Gesundheitswesen dauerhaft allein durch mehr Effizienz und Umverteilung zu sichern sei.

Denn künftig geht es nicht mehr um Beitragsunterschiede von nur zwei Prozent zwischen den Kassen. Durch den medizinischen Fortschritt und den demografischen Wandel wird der Krankenkassenbeitrag von heute rund 13,5 Prozent bis 2040 auf bis zu 30 Prozent ansteigen. Gleichzeitg werden sich die Pflegebeiträge verdoppeln – das heißt, Erwerbstätige müssten dann über ein Drittel ihres Einkommens für die Versorgung Kranker investieren. Dies stößt an Grenzen der Solidarität: Warum noch in die öffentliche Gesundheitsversorgung einzahlen, wenn die private Vorsorge mit einem Bruchteil dieses Geldes zu sichern ist?

Das öffentliche Gesundheitswesen steckt künftig in einer doppelten Finanzklemme: Analog dem Rentensystem stehen ab 2010 weniger Beitragszahler mehr Ausgabenempfängern gegenüber. Hinzu kommt die Steigerung der Pro-Kopf-Gesundheitsausgaben. Sie werden aus drei Gründen deutlich über der allgemeinen Einkommensentwicklung liegen:

1. Dank des medizinischen Fortschritts steigt die Lebenserwartung. Doch je länger wir leben, um so mehr Ältere sind behandlungsbedürftig.

2. Der Siegeszug der Gen-Medizin bringt eine ganz neue Patientengruppe hervor: Menschen ohne aktuelle Symptome, bei denen aber eine Krankheitswahrscheinlichkeit und eine entsprechende Behandlungsbedürftigkeit ermittelt wurde. (Gen-)Medizin kreiert neue Krankheitsbilder und Therapien.

3. Die Medizin wagt sich in immer neue Bereiche vor und damit steigen – zynisch formuliert – die Behandlungskosten. Organzüchtung, häufigere Transplantationen und die Fortschritte in der Krebs- oder Aidstherapie lassen mehr Menschen über längere Zeit hinweg behandlungsbedürftig leben. Je erfolgreicher die Medizin ist, umso mehr Menschen sind krank.

Effizienz, medizinischer Fortschritt und Gerechtigkeit werden sich künftig nicht mehr wie von selbst ergänzen. Schmidts Regierungspolitik ignoriert dies jedoch bisher.

Um eine Explosion der Beiträge zu verhindern, müssten weitere Bevölkerungsgruppen in die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen werden, sodass am Ende eine „Volksversicherung“ für alle entsteht. Gleichzeitig müssten die Krankenkassen ihre Finanzierungsbasis auch auf andere Einkommensarten (wie Mieten und Kapitalerträge) ausweiten. Es ist auch nicht einzusehen, dass die Beitragsbemessungsgrenze von aktuell 6.525 Mark im Monat verhindert, dass Gutverdienende belastungsgerecht an der solidarischen Krankenversorgung beteiligt werden und sich stattdessen durch private Versicherungen von ihrer Sozialverantwortung freikaufen können.

Ulla Schmidts Vorgängerin Andrea Fischer hatte das richtigeZiel angepeilt:Kostenbegrenzung

Allerdings: Auch eine „Volksversicherung“ wird nicht ganz verhindern können, dass die Beiträge künftig steigen.

Ulla Schmidts Vorgängerin Andrea Fischer peilte daher das richtige Ziel der Kostenbegrenzung an – wenn auch mit dem falschen Mittel: Die allgemeine Kostendeckelung („Globalbudget“) lässt die Machtverhältnisse innerhalb der Medizin unangetastet. Die Gleichzeitigkeit von Mangelversorgung und Luxusmedizin bleibt dann bestehen. Was tut beispielsweise ein Arzt, wenn das Jahresbudget für Herzschrittmacher schon im September ausgeschöpft ist? Wartelisten, verringerte Eingriffszahlen und verschärfte Indikationskritierien treffen vorrangig Patienten, die ihre Anliegen nicht prononciert artikulieren können.

Im Zangengriff von demografischem Wandel und medizinischem Fortschritt steht die Politik deshalb vor der Alternative: Entweder zerbricht das Gesundheitswesen in einigen Jahren unter der Finanzierungslast in ein Zweiklassensystem: eine öffentlich finanzierte Basisversorgung für alle und private Zusatzleistungen für die Reichen. Oder die Politik bemüht sich um öffentlich akzeptierte Prioritäten. Ein solidarisches Gesundheitswesen soll jedem eine faire Chance auf Gesundheit eröffnen. Dies heißt aber nicht, dass alles medizinisch Mögliche zu finanzieren ist. Nicht alle Krankheiten sind gleich gewichtig. Viele Behandlungen sind überflüssig, einige sogar schädlich.

Eines ist sicher: Ohne breite öffentliche Diskussion wird sich in der Medizin keine Behandlungskultur etablieren, die das Bewusstsein wirtschaftlicher Grenzen mit dem Gebot der Hilfe gerecht verbindet. HARRY KUNZ

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