: Singen hilft
Wedding und Neukölln revisited: „Heimatspiele“ unter der Regie von Dirk Cieslak in den Sophiensälen
Im vergangenen Jahr schweifte „Lubricat“ noch in weiter Ferne. Der Giftgasanschlag auf die Tokioter U-Bahn stand im Zentrum einer theatralen Recherche. Die Sophiensäle waren zur Kühlbox umgebaut; der kalte Atem des Todes ließ das Publikum frösteln.
Im Jahr 2001 betreibt Regisseur Dirk Cieslak Feldforschung ganz um die Ecke. „Heimatspiele“ ist das Ergebnis einer Meditation über die Weddinger Badstraße. Das ist weniger spektakulär, auch weniger konzentriert als „Tokyo Subway“. Aber was, bitte, will man aus dem Wedding auch machen?
Cieslak präsentiert auf einem fleischfarbenen Geviert sieben Modelle des Homo sapiens weddingens. Da ist der schwule Gottlieb (Niels Bormann): sanft, exaltiert und zerbrechlich. Pippo (Godehard Giese) ist mit angeklatschtem Haar und blondem Schnäuzer sein kaltschnäuziges dummfreches Gegenstück. Gloria (Ursula Renneke) rutscht als gefallene Kiezprinzessin auf Knien durch die Arena, um endlich doch noch einen Mann abzubekommen. Vanessa Stern gibt eine Rosa, die zwar gern in einen imaginären Dialog mit ihrer spartakistischen Namensvetterin tritt, die ja auch ihre Stimme im Festsaal in der Sophienstraße erhob, aber ihr blaues Auge und die immer wieder rutschende Latzhose lassen sie als nicht mehr denn ein zerzaustes Kaninchen einer zaghaft geträumten Revolution erscheinen.
Sie wie auch Tanja (Stefanie Frauwallner), Mohamed (Martin Clausen) und Lars (Jörg Schiebe) sind Verlierertypen. Sie sind permanenter Gewalt ausgesetzt, und selbst wenn sie – wie Mohamed, der beständig Lars traktiert – Gewalt ausüben, so geschieht das in einer Verlorenheit, die den Verlierer von Geburt auszeichnet. Jeder von ihnen verliert auch noch allein. In letzter Konsequenz demonstriert das Lars, der sich komplett in seinen blauen Mumienschlafsack zurückzieht und von seiner Umwelt abgeschottet ist.
Nur beim Singen kommt das Septett zusammen. Beim skeptischen, unsicheren Absingen von Volksliedern. Erst disharmonisch, dann immer glockenheller werdend erklingen die Weisen „Wenn ich ein Vöglein wär“, „Der Mond ist aufgegangen“ und „Ade, du mein lieb Heimatland“. Das ist natürlich ironisch. Aber auch ein Ausdruck des beklagenswerten Zustands, sich hohler Formen bedienen zu müssen, um Zusammengehörigkeitsgefühle suggerieren zu können.
Der Griff zum Volksliedgut ist der hoffnungslos anmutende Versuch der Figuren, sich kulturell zu verorten. „Heimat“ ist nicht möglich, lediglich punktuell und als Parodie. Neben dieser elegischen Quintessenz des Nachdenkens über „Heimat“ weisen Cieslaks „Heimatspiele“ aber auch szenische Miniaturen auf, die schallendes Gelächter evozieren. Etwa wenn Lars sich in seinem Mumienschlafsack zum Geldautomaten verwandelt. Anfangs gibt er gehorsam Geld gegen Karte. Später versagt er und verschlingt die Karten. Am Ende reißt Mohamed den Automaten um, bricht ihn auf und plündert ihn. Warten, Fehlfunktion und Gewaltexzesse sind kongenial in dieser Szene verschlüsselt. Das Klischee vom Wedding gleicht jenem von Neukölln; warten wir darauf, dass die flinken Reporter des Spiegel das auch so festschreiben. TOM MUSTROPH
24. bis 29. 4., 1. bis 5. 5., 20 Uhr, Sophiensäle, Sophienstraße 18, Mitte
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