: Patio und Patina
Wahre Lokale (68): Der „Krug zum grünen Kranze“ in Göttingen
„Das! War! Kein! Abseits!“ Der rotgesichtige Mann stößt sich vom Tisch ab und kippt mit dem Stuhl gefährlich nach hinten. „Kein Abseits, kannst du gleich sehen“, schnauft er, wird von der Säule hinter ihm gestützt und findet in seine Ausgangsposition zurück. „Ha! Jürgen Fischer, mach mir bitte nochma ’n Bier.“
Jürgen Fischer, Inhaber der Gaststätte und „Premiere Sports Bar“, verzieht keine Miene, macht aber das Bier. Und noch ein paar mehr für die Gäste, die sich an diesem Abend zum Fußballgucken bei ihm eingefunden haben: Top-Spiel der Woche.
In Göttingen hat es weitere Lokale mit Premiere-Leuchtkasten an der Außenwand. In ihnen muss man jedoch auf verchromten Freischwinger-Barhockern Platz nehmen und sich von Halogenlampen bestrahlen lassen – der Student von heute will es so. Anders im „Krug zum grünen Kranze“. Die Beleuchtung ist schummrig, das Mobiliar belastbar, der Fernseher steht auf einem funktionsuntüchtigen Spielautomaten. Die Gäste scharen sich um die Tische mit der besten Sicht, wagen es aber niemals, ihre Stühle in die Laufstrecke des Wirts zu rücken. Man trinkt Bier und pariert. Auch, wenn man etwas isst. Auf der Speisekarte finden sich die Menüs der Woche, Salate, diverse Schnitzelvariationen, Brotzeitteller – und Ausrufezeichen. Zur Zeit ist „Spargel!“ im Angebot, im Herbst war es „Grünkohl!“, „Leberknödelsuppe!“ und „Spare Ribs!“ gibt es immer. Wenn man zum ersten Mal eine Bestellung aufgegeben hat, kommt Herr Fischer umgehend an den Tisch zurück, schaufelt Zigaretten und Feuerzeuge beiseite und verschafft seinen Plastiksets Platz. Beim zweiten Mal ist das nicht mehr nötig. „Hühnerfrikassee!“ und „Schweinebraten!“ sind immer längst fertig, bevor das Top-Spiel der Woche beginnt. Rechtzeitig zum Anpfiff räumt Herr Fischer ab und vergisst nie, den Aschenbecher zurückzubringen. Dann greift er zur Fernbedienung und stellt den Ton am Fernseher lauter. In Ausnahmefällen, wenn das Lokal sehr voll ist, darf ein Stammgast diese Aufgabe übernehmen. In Abstimmung mit den Tischnachbarn in den hinteren Reihen wird dann sehr gern ein bisschen nachgelegt: „Ist euch das laut genug? Könnte etwas mehr, oder? So oder doch noch einen Tick?“
Egal, wie der Fernseher nun auch dröhnt, vom Kommentar wird niemand etwas verstehen. Dafür sorgt der rotgesichtige Mann, dessen Verzweiflung über den Spielverlauf jeden Sportreporter übertönt. „Jetzt kommt gleich das Zweinull! Pass auf, ich sage dir, gleich kommt das Zweinull!“ Oft stimmt dies, das Zweinull kommt. „Ha! Hab ich es gesagt, oder nicht? Das Zweinull! Ich hab’s gewusst! Das war doch so was von klar!“
Zur Halbzeit springt man über den Patio zu den Toiletten und bestellt auf dem Rückweg neue Getränke. Bei verminderter Fernsehlautstärke wird der Zwischenstand diskutiert, auch schon mal mit den jüngeren Leuten, die hier zwar nie regelmäßig verkehren, aber nur über Kabelanschluss in der Studentenbude verfügen. Ungefähr in der 60. Spielminute, beim 14. Bier, wird der rotgesichtige Mann gelassener. Jetzt darf auch mal jemand anders kommentieren. Wenn keine dramatische Wendung des Spiels in Sicht ist, bespricht man in kleinen Gruppen den aktuellen Tabellenstand.
An manchen Abenden gesellt sich ein Pärchen zu den Krug-Guckern, dass aus unerfindlichen Gründen zu Eintracht Frankfurt hält. Man behandelt sie freundlich. Sogar Herr Fischer bringt ihnen Mitgefühl entgegen. Er selbst verfolgt nie ein Fußballspiel. Nicht, weil er so viele Biere zapfen und Plastiksets verteilen müsste – es interessiert ihn nicht. Das Herz des Wirts schlägt für den Motorsport, und wenn das Formel-1-Rennen am Sonntag beginnt, dann ist alles im Lot. Jürgen Fischer schnappt sich dann seine Fernbedienung und fiebert ganz allein mit. Sonntag ist Ruhetag im „Krug zum grünen Kranze“.
CAROLA RÖNNEBURG
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen