„Jedes zweite Atomkraftwerk macht Verlust“

Ökonomische Daumenschrauben hätten die AKWs schneller abgeschaltet als der Atomkonsens, meint der Wirtschaftsexperte Wolfgang Irrek

taz: Kann man 15 Jahre nach Tschernobyl in Deutschland mit einem Atomkraftwerk noch schwarze Zahlen schreiben?

Wolfgang Irrek: Ja. Trotz der gesunken Strompreise gibt es einen erheblichen finanziellen Anreiz, die Kernkraftwerke möglichst lange laufen zu lassen: Lukrativ ist vor allem das Nebengeschäft mit Zins- und Beteiligungserträgen aus den Geldern, die für Stillegung, Rückbau und Entsorgung zurückgestellt wurden.

Geld machen die Stromkonzerne also weniger mit der Stromerzeugung, als durch Finanzgeschäfte mit den Rückstellungen?

Die Hälfte der deutschen AKWs, die neueren Anlagen, produzieren ihren Strom auch ohne Einrechnung dieser Zins- und Beteiligungserträge wirtschaftlich. Die andere Hälfte schreibt ohne diese Erträge rote Zahlen.

Belasten die Kosten für die Entsorgung des Atommülls nicht die Bilanz der AKWs?

Die direkte Endlagerung ist wesentlich kostengünstiger. Das Öko-Institut hat errechnet, dass die Wiederaufarbeitung zwischen etwa 4.700 und 9.300 Mark pro Kilogramm Atommüll kostet. Bei der direkten Endlagerung dagegen geht man von einem Preis zwischen 1.700 und 3.400 Mark pro Kilo aus.

Die billigste Wiederaufarbeitung ist also immer noch teurer als die teuerste direkte Lagerung?

Genau.

Warum transportieren die Betreiber dann den Müll wie jetzt gerade nach Sellafield?

Es gibt bestehende Verträge, und die liefern den Betreibern ja auch einen Entsorgungsnachweis. Den hätte man aber gemäß Atomkonsens auch durch ein Zwischenlager.

Es gibt also für die AKW-Betreiber keinen wirtschaftlichen Grund für die umstrittenen Transporte, außer der Angst vor Vertragsstrafen?

So ist es. Aber ich kenne die Verträge nicht im Detail. AKWs sind eben vor allem deshalb wirtschaftlich, weil die politischen Rahmenbedingungen sie wirtschaftlich machen. Das sieht man auch im internationalen Vergleich, wo noch weniger Wert auf Sicherheit gelegt und geringere Entsorgungsvorsorge geleistet wird als in Deutschland. Zum Beispiel in Frankreich sind die AKWs noch wirtschaftlicher.

Lohnt sich heutzutage ein AKW-Neubau in Deutschland ?

Nein, das sehen auch die Betreiber so: Bei den jetzigen Preisen rechnet sich das nicht. Die Meiler werden wie in Würgassen stillgelegt, wenn umfangreiche und teure Nachrüstungen anstehen.

Der Atomausstieg rechnet sich für die Betreiber also.

Der Atomausstieg ist für die Betreiber kein Ausstieg, sondern laut RWE-Chef Kuhnt eine betriebswirtschaftlich sinnvolle Lösung. Wir haben in unserem Gutachten angenommen, dass ohne einen Ausstieg noch eine Reststrommenge von 2.300 Terrawattstunden produziert wird. Im Ausstieg wurde eine Reststrommenge von 2.623 Terrawattstunden vereinbart. Der Atomausstieg bedeutet, dass die AKWs bis zum Ende ihrer betriebswirtschaftlich-technischen Nutzungsdauer laufen können.

Was wäre die Alternative für einen schnellen Ausstieg gewesen?

Man hätte beispielswiese an verschiedenen wirtschaftlichen Schrauben drehen können: An den Rückstellungen etwa. Oder wenn man eine realistische Haftpflichtversicherung vor dem Hintergrund von Risikostudien und von Tschernobyl berechnet hätte, wären schon die Versicherungsprämien so hoch, dass sich kein AKW mehr rechnen würde. Man hätte auch Kernbrennstäbe besteuern können. Hätte man diese Maßnahmen ergriffen, dann wären die AKWs sicherlich recht schnell außer Betrieb gegangen.

Schneller als beim Atomkonsens?

Ja. INTERVIEW: BERNHARD PÖTTER