: Ein Stern namens Larissa
Eine Kurzgeschichte von Wladimir Kaminer
Das Leben auf der Schönhauser Allee gleicht oft einem Film, einer Gegenwartsfiktion, mit großen Produktionskosten und unzähligen Statistenmengen gedreht. Kaum geht man aus dem Haus, schon steckt man in einer aufregenden Episode: Die Flugzeuge, Straßenbahnen, Züge, Autos und Radfahrer sorgen für große Turbulenzen und verschaffen einem so die Illusion ewiger Bewegung. Alles dreht sich um dich.
Auch viele Liebesgeschichten, die sich in unserer Gegend abspielen, haben inzwischen etwas Kinematographisches an sich. Zum Beispiel, die von Erik und Larissa. Erik ist Besitzer des Spielsalons „Pure Freude“ und stammt ursprünglich aus Baku. Er entwickelte sich erst in Deutschland zu einem Spielkasinobesitzer, in seinem früherem Leben war er Musiker und spielte Heavy Metal. Seine Band hieß „Black Town“ und war vor zehn Jahren die erste und anscheinend auch die letzte Heavy Metal Band der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku.
Damals hatte Erik kein Geld, aber lange Haare und viele Freunde. An jedem Wochenende spielten Black Town ihren Heavy Metal im Restaurant „Ölarbeiter“ auf dem Leninboulevard und besaßen sogar schon fast einen Plattenvertrag in Saudi-Arabien, da brach plötzlich ein großes Massaker in der Stadt aus: Die Perser gingen auf die Armenier los, und Erik, als Armenier, musste abtauchen. Irgendwie gelangte er dann nach Deutschland - „mit dem Zug“, wie er selbst erzählte. Drei Jahre spielte er danach in Deutschland auf der Straße Geige – ohne jegliche Perspektive. Bis er endlich politisches Asyl bekam, sich die Haare schnitt und zu einem Spielkasinobesitzer wurde. Das Geld dafür wurde ihm von ein paar reichen Armeniern ausgeliehen. Seine ersten sieben Automaten schraubte er sich eigenhändig aus dem Müll zusammen. Auf der Schönhauser Allee fanden sich genug Kunden, die seine Maschinen mit ihrem Geld regelmäßig fütterten. Eriks Traum vom Wohlstand ging langsam in Erfüllung, doch nun litt er verstärkt unter Einsamkeit.
Jedesmal, wenn er bei uns vorbeischaute, beklagte er sich über sein ödes Privatleben. „Ich finde nie eine richtige Frau!“, seufzte er. „In den Schönhauser Arkaden findest du alles“, antwortete ich automatisch. Das ist eigentlich ein Werbespruch des Kaufhauses: „Bei uns finden Sie alles“ steht auf dem großen Plakat, auf dem ein Mann mit einer zu ihm passenden Frau und zwei Kindern – einem großen Jungen und einer kleinen Tochter – glücklich lächelt. Das Bild lässt vermuten, das der Mann seine wunderbare Familie ebenso wie sein ganzes Outfit gerade in den Arkaden erworben hat und deswegen vor Freude strahlt. Doch nicht wegen ein paar Schuhen? Jedes Mal wenn ich gefragt werde, wo findet man dies oder das, sage ich, ohne nachzudenken: „In den Arkaden“. Dieses Kaufhaus ist die Zaubermuschel des Bezirks.
Erik lachte aber nur über meinen Einkaufstipp. Zwei Wochen später, wie es in einem Film üblich ist, traf ihn der Schicksalsschlag: Er verliebte sich unsterblich in die Parfümverkäuferin Larissa aus der „Douglas“-Parfümfiliale – in den Schönhauser Arkaden. Jeden Tag ging er nun hin, um mit der Frau zu plaudern und ein paar kleine Parfümartikel zu kaufen. Das war ein teurer Spaß! Larissa erwies sich als eine sehr verwöhnte Frau und erwartete von Erik ganz besondere Geschenke: Parfüm, Kleider und Schmuck fand sie banal.
„Sie will mit mir nicht mal ins Kino gehen“, beschwerte sich Erik. „Ihr müsst nicht ins Kino, ihr seit selbst ein großes Kino“, unterstützte ich Larissa. „Ich muss mir etwas Besonderes einfallen lassen“, meinte Erik. Er überlegte nicht lange, schraubte eines Tages seine Automaten auseinander, nahm das Geld raus und fuhr nach Moskau. Dort, in einem Observatorium, kaufte er für Larissa einen Stern – im Wert von 500 Dollar. Es war ein unsichtbarer Stern, ein sichtbarer war erst ab 3.000 Dollar zu haben. Dafür bekam Erik ein richtiges Zertifikat, dass er der einzige Besitzer und Herrscher eines kleinen Sternes im Sternbild der Waage war und konnte damit nun machen, was er wollte – rein theoretisch natürlich. Er konnte diesen Stern selbst benennen, jemandem schenken oder weiter verkaufen, nur angucken konnte er ihn nicht, weil es eben ein unsichtbarer Stern war.
Erik nannte seinen Stern Larissa – und schenkte das Zertifikat der Parfümverkäuferin von Douglas. Solch einer romantischen Geste konnte Larissa nicht widerstehen – und ging mit Erik ins Kino. „Hast du eigentlich noch etwas Geld übrig?“, fragte sie ihn besorgt. „Wir müssen nämlich ein Teleskop kaufen.“ „Das brauchen wir nicht“, erwiderte Erik. „Du bist mein Stern, und ich möchte, dass du immer neben mir leuchtest.“ Sie schwiegen und schauten auf die Leinwand des Colosseum-Kinos Nummer 9, auf dem gerade „15 Minuten Ruhm“ lief.
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