: Ein Leben im Chaos
Kinder, die sich nicht konzentrieren können, bekommen spätestens in der Schule Probleme. Geschätzt wird, dass bis zu fünf Prozent aller Kinder unter einem Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom leiden
von CLAUDIA BORCHARD-TUCH
Manche Kinder finden einfach keine Ruhe. Kaum können sie laufen, hüpfen sie wie Springbälle durch die Gegend. Nichts ist vor ihnen sicher. Sie fassen alles an, werfen Tassen und Teller vom Tisch, öffnen Schubläden und Schränke und klettern auf Tische und Fensterbänke. Das Ganze ist aus dem „Zappelphillipp“ wohl bekannt. Andere Kinder dagegen verhalten sich eher wie ein „Hans-guck-in-die Luft“: Sie wirken ruhig, verträumt, ermüden schnell und trödeln. In der Schule schauen sie zum Fenster hinaus und sind nicht bei der Sache. All diese Kinder haben eine Schwierigkeit: Sie können sich nicht konzentrieren.
Das Problem hat inzwischen einen offiziellen Namen samt Nummer in dem US-amerikanischen Krankheitskatalog DSM-IV und dem in Deutschland geltenden ICD-10: Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom (ADS). Es betrifft etwa 3 bis 5 Prozent der Schulkinder. Über die Ursachen gibt es bis heute keine gesicherten Erklärungen, wohl aber zahlreiche Hypothesen.
Vielleicht sind ADS-Kinder die genetischen Erben einer längst vergangenen Gesellschaft von Jägern und Sammlern. Der Amerikaner Thom Hartmann ist jedenfalls davon überzeugt. „Diese Menschen hatten in prähistorischer Zeit beim Jagen eine bessere Überlebenschance“, erklärt Hartmann. Bei der Verfolgung ihres Ziels könnten gute Jäger auch ihre Umgebung wahrnehmen. Sie lieben neue Anregungen, nehmen Risiken auf sich und blicken Gefahren ins Auge. Dies sind tatsächlich alles Eigenschaften von ADS-Kindern. ADS-Kinder konzentrieren sich nur selten auf eine einzige Sache. Ihre Hauptaufmerksamkeit richtet sich hauptsächlich auf für sie interessante Dinge – Dinge, die für sie langweilig oder bedeutungslos sind, vergessen sie sofort. ADS-Kinder sind impulsiv und handeln sofort, ohne vorher lange zu überlegen.
Im alltäglichen Leben macht sich dies zumeist negativ bemerkbar: Die Kinder platzen überall dazwischen, stören andere beim Spielen und reden ständig dazwischen. Ihre Fähigkeit, Gefahren einzuschätzen, ist gering: Ein Schüler, der seinen Lieblingslehrer auf dem Schulhof entdeckte, kletterte sofort hinaus auf den Fenstersims seines Klassenzimmers im zweiten Stock, um sich lautstark bemerkbar zu machen.
Alle ADS-Kinder leben zumeist in einem ständigen Chaos. In ihren Zimmern herrscht eine heillose Unordnung. Es ist ihnen auch nicht möglich, den zeitlichen Ablauf ihres Tages auf die Reihe zu bringen. Die Aktivitäten sind planlos, und die Kinder verzetteln sich. Abends sind sie erschöpft, obwohl sie wenig Effektives zustande gebracht haben.
Ein großer Teil der ADS-Kinder leidet unter einer extremen Bewegungsunruhe – sie sind hyperaktiv. Überall, wo diese Kinder auftauchen, verbreiten sie Gereiztheit und Unruhe. Die Unersättlichkeit ihrer Aktivitäten und Wünsche geht anderen auf die Nerven. Dies merken die Kinder aber nicht, weil es ihnen an Selbstkritik mangelt.
Andere ADS-Kinder dagegen wirken ruhig und abwesend. Ihre innere Unruhe zeigt sich nur in den feinen Körperbewegungen. Wie die Hyperaktiven können sie ihre Nägel abbeißen, stundenlang an ihren Haaren zupfen oder in ihre Schreibtische Rillen einritzen. Oft sind diese Kinder schüchtern und ängstlich. Beim kleinsten Anlass brechen sie in Tränen aus.
Wahrscheinlich handelt es sich beim ADS um eine vererbbare Störung – entsprechend einer Studie von Stephen V. Faraone, Harvard-Universität. Die ererbte Krankheit könnte zu einer Störung der Botenstoffe im Gehirn führen. Botenstoffe leiten die Erregung von einer Nervenzelle auf die andere im Gehirn. Normalerweise wird die Fülle von Informationen, die – von den Sinnesorganen kommend – im Gehirn eintreffen, so gefiltert, dass nur die wichtigen wahrgenommen werden. Die unwichtigen werden vor dem Erreichen der Hirnrinde durch hemmende Nervensysteme ausgeschaltet. Genau hier liegt möglicherweise die Störung beim ADS: Sind die Botenstoffe gerade im Bereich der hemmenden Nervensysteme vermindert, wird das Gehirn von einer riesigen Menge Informationen überschwemmt. Es entsteht ein Chaos, in dem wichtige Eindrücke nicht von unwichtigen unterschieden werden.
Bei der Bildung bestimmter Botenstoffe spielen Eisen sowie die Vitamine B 6 und C eine Rolle. Viele ADS-Kinder zeigen einen Mangel an diesen Substanzen. Nach Allan Zametkin vom National Institute of Mental Health in Bethesda, USA, ist auch der Traubenzucker-Stoffwechsel vor allem im Stirnhirn reduziert. Die verminderte Versorgung des Stirnhirns mit Traubenzucker könnte erklären, warum ADS-Kinder häufig so gierig nach Zucker sind. Das Stirnhirn reguliert das Verhalten, dämpft Impulsivität und ermöglicht Planen und Vorausdenken.
Bisher gibt es für eine ADS-Störung noch keinen handfesten Nachweis – es existiert kein einziger bewiesener Befund als Marker. Zum Ausschluss anderer Erkrankungen, die ähnliche Erscheinungen zeigen können, müssen ein EEG und eine Blutuntersuchung durchgeführt werden. Um ein ADS zu diagnostizieren, bedarf es Informationen aus mindestens zwei Lebensbereichen (von den Eltern, aus der Schule oder vom Kindergarten). Verschiedene psychologische Tests ermitteln Verhaltensauffälligkeiten, die zum ADS gehören. Es lässt sich so auch erkennen, wo die Schwerpunkte der Symptomatik liegen, und abschätzen, welche weiteren Therapien erforderlich sind.
Über den Verlauf des ADS ist man sich nicht einig. Manche Experten sind davon überzeugt, dass es sich nicht „auswachsen“ könne: Zwar ließe eine Hyperaktivität im Erwachsenenalter nach, mindestens ein Drittel der Betroffenen zeige jedoch sogar eine deutliche Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörung. Andere behaupten dagegen, dass ADS verschwinden könne – wie etwa die Kinderärztinnen Roswitha Spallek und Ingrid Just. Just berichtete, dass ein großer Teil ihrer Patienten geheilt werden könne – im Schnitt nach dreieinhalb Jahren Therapie.
Die Behandlung erfolgt auf verschiedenen Ebenen. Sie beginnt mit der Beratung der Eltern. „ADS-Kinder sollten genau wissen, wo es langgeht“, erklärt der Kinderarzt Klaus Skrodzki aus Forchheim. „Das, was das Kind nicht kann, nämlich Anhalten, Hinhören und Hinsehen vor dem eigentlichen Handeln, müssen Eltern und Lehrer umso mehr. Eine kurze Pause vor dem Handeln hilft ihnen zumeist, nicht die Nerven zu verlieren.“ Die Familientherapie kann den Eltern helfen, mit ihren eigenen Problemen im Umgang mit dem Kind fertig zu werden.
Die Verhaltenstherapie nimmt Einfluss auf das Verhalten des Kindes, indem sie sein „richtiges“ Verhalten, zum Beispiel Ruhe und Aufmerksamkeit, belohnt, „falsches“ Verhalten dagegen ignoriert. Ziel der Therapie ist es, erlernte, unerwünschte Verhaltensweisen in erwünschte zu überführen. Sind erwünschte Verhaltensmuster in einfachen Situationen eingeübt, werden sie auf neue, für den Patienten noch schwierigere Bedingungen übertragen. Diese Art der Therapie hat sich bei ADS-Kindern bisher sehr gut bewährt. Psychomotorische Übungsbehandlungen wie Laufen, Springen, Klettern, Gleichgewichts- und Geschicklichkeitsübungen zeigen dem Kind spielerisch, Freude an und mit der Bewegung zu haben. Sie trainieren die Steuerung des Körpers und den Umgang mit dem Raum. Die Ergotherapie dient der gezielten Behandlung von Teilleistungsschwächen – zum Beispiel von Störungen der Bewegung, der Wahrnehmung oder der Konzentration.
Verschiedene Diäten werden empfohlen. Mehrere Stoffe wie Glutaminsäure, Blei und Quecksilber können eine Bewegungsunruhe verursachen. Glutaminsäure ist in den meisten Fertiggerichten enthalten. Eine gute Versorgung mit Mineralien und Spurenelementen und mit den Vitaminen B und C kann die Aufnahme von Blei verringern. Die Diät nach Feingold verbietet alle künstlich gefärbten Lebensmittel, alle Nahrungsstoffe mit dem Antioxydans BHT sowie alle Nahrungsmitte, die natürliche Salizylate enthalten. Die phosphatarme Diät empfiehlt den Verzicht auf Lebensmittel mit hohem Phosphatgehalt, zum Beispiel Eier, Kakao oder Schokolade. Dass Phosphate eine wesentliche Ursache für die Hyperaktivität darstellen, ist jedoch inzwischen widerlegt. Einzelne Kinder können jedoch negativ auf Phosphate reagieren. Ob eine Diät einen günstigen Effekt zeigt, sollte einfach ausprobiert werden. Bei einem Teil der hyperkinetischen Kinder gehen die Störungen zurück.
Das zur ADS-Behandlung verwendete Medikament heißt Ritalin und unterliegt dem Betäubungsmittelgesetz – es gehört zur Gruppe der Psychostimulanzien. Es wird in der Regel nur bei schweren Störungen eingesetzt, beispielsweise dann, wenn das Kind nicht mehr in der Lage ist, zur Schule zu gehen. „Natürlich ist es für die Eltern und das Kind positiv, wenn durch Ritalin Ruhe im Alltag einkehrt und der Kreis aus Chaos, Opposition und Lärm durchbrochen werden kann“, erklärt die Oberurseler Therapeutin Marcelline Schmidt vom Hofe, die Kinder und Jugendliche behandelt. Aber Ritalin führe oft zu Nebenwirkungen, die vielfältig nachgewiesen seien. So kann das Wachstum verzögert und die Krampfbereitschaft erhöht sein.
Die Behandlung mit Ritalin kann auch zu Appetitlosigkeit führen. Der behandelnde Arzt muss daher das Gewicht der Kinder kontrollieren. Der Ritalin-Wirkstoff Methylphenidat ist schon 30 bis 45 Minuten nach der Einnahme aktiv, seine Wirkung ist nach vier bis sieben Stunden völlig abgeklungen. Viele Kinder nehmen Ritalin schon beim Aufstehen und sind dadurch in der Schule konzentriert. Wenn sie nach Hause kommen, klingt die Wirkung des Ritalins ab, und die Kinder haben wieder Hunger auf ein Mittagessen.
Ritalin heilt nicht, sondern lindert nur Symptome. Über die langfristigen Folgen einer Ritalin-Behandlung ist noch nichts Genaues bekannt. Zusätzlich zur Behandlung mit Ritalin sollten unbedingt andere therapeutische Maßnahmen durchgeführt werden. Diese sind jedoch relativ zeitaufwendig und daher teuer. Vielleicht ist dies eine der Ursachen, warum in den USA Verschreibungen von Ritalin in den letzten zehn Jahren um siebenhundert Prozent gestiegen sind.
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