: Die Umwelt in uns
Die Zeit ist ein Gummiband: Jo Fabians Stück „Ich. Das Auge. Toter Winkel“ im Theater am Halleschen Ufer
Fitness ist Pflicht und Langsamkeit eine Provokation in der kapitalistischen Gesellschaft, die große Teile des Lebens unter die Regel „Zeit ist Geld“ gestellt hat. In Jo Fabians Stück „Ich. Das Auge. Toter Winkel“ fallen diese gegensätzlichen Pole, Beschleunigung und Stillstand, gleich am Anfang zusammen. Genau in der Bühnenmitte tritt ein Rennradler in die Pedale. Er wird eine Stunde lang seinen Rhythmus nicht ändern und dennoch nicht von der Stelle kommen. Die Kilometer wickeln sich um seine Reifen ohne Ausdehnung. Eine Linie schnurrt zum Punkt zusammen.
Zwei Leinwände grenzen sein Gesichtsfeld ein. Er sieht die beiden Frauen nicht, die davor in Rechtecken aus Sand und Licht lange bewegungslos liegen. Sie verschwinden in dieser Ruhe, gleiten davon, als könnten wir nur erkennen, was sich bewegt. Präsenter werden die projizierten Bilder, die ihren Körper in Details erfassen und zu einer Landschaft verfremden, in der Knie wie Felsrücken wirken und Sehnen am Hals gespannt und hart hervortreten. Später öffnen sich Augen auf den Leinwänden, die Tänzerinnen davor stoßen mit den Beinen Radien in den Sand. Speichen der Räder kommen dazu (oder sind es Filmspulen?), plötzlich rundet sich alles, dreht sich, eine unaufhaltsame Maschine, von der die Figuren fast verschluckt werden.
Den Takt der Wahrnehmung aus seinen genormten Spuren bringen – nicht nur Jo Fabian will die Einheiten, in denen Produktivität gemessen und Freiheit/Freizeit zugeteilt wird, demontieren. Das Thema verhandeln auch Künstler der Berlin Biennale. João Penalva zum Beispiel, der selbst zehn Jahre Tänzer war, organisiert sein Material nach einem theatralischen Zeitmanagement. Er zeigt in einem Video nur eine Einstellung, eine Landschaft, durch die Nebel und Wolken ziehen, und lässt dazu zwei Stimmen Märchen von Fuchsgeistern und Gespenstern aus der Stadt erzählen. Die Trennung von innerer und äußerer Bewegung bringt die Zeit wie eine archaische Ressource zurück.
Penalva ist nicht erbaut von der Ungeduld des Kunstpublikums. Als Theatermacher hat Fabian den bildenden Künstlern gegenüber den Vorteil, dass sein Publikum eine erfüllte Zeit erwartet. Er spannt die Besucher in seine Testreihen über die Wahrnehmung ein: Selbst wenn sich nichts auf der Bühne ereignet, so ändert sich vielleicht doch das Verhältnis des Betrachters zu diesem Stillstand. „Ich. Das Auge. Toter Winkel“ ist geometrieverliebt, von Spiegelungen und Formanalogien erfüllt. „Während wir die Welt betrachten, befinden wir uns selbst im toten Winkel unserer Augen. Folgerichtig ist ein Großteil des Bildes, welches wir von uns selbst haben, eine Reflexion der Umwelt auf uns“, beschreibt Fabian seinen Ansatz. Während er für Regie, Licht und Video verantwortlich ist, speisen Paula E. Paul und Elvira Schurig den Tanz in diese Bilder produzierende Maschine ein, als wäre der menschliche Faktor eine zu vernachlässigende Größe. Nur am Rande, in kurzen Tanzausbrüchen, lassen sie ihre Persönlichkeiten aufblitzen, gerade genug, um zu ahnen, was außen vor blieb. Vielleicht spielt sich ihr Leben im toten Winkel des Meisters Fabian ab.
KATRIN BETTINA MÜLLER
3.–6. 5., 20 Uhr, im Theater am Halleschen Ufer, Kreuzberg
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