: Angeln im Urinsee
Eine Kurzgeschichte von Jochen Schmidt
Spucken, Pfeifen, Löten, Angeln, das waren die Fähigkeiten, die wir in dieser Reihenfolge erlernten, um uns wenigstens ideologisch von den Mädchen zu unterscheiden. Beim Spucken brachte ich nie die vom Reglement geforderte Rotzekugel zustande, immer nur vieltröpfige schlecht platzierte Salven. Auch beim einfachen Herauszutschen der Aule, wie es die Älteren aus Faulheit praktizierten, traf ich nur meine Schuhe. Pfeifen auf zwei Fingern gelang mir nicht auf Anhieb, und mir wurde schwindlig dabei, andere konnten es auf einem, auf vier und sogar ohne Finger, so schrill, dass einem die Ohren platzten. Löten konnte ich, das Kollophonium, das ja aus Kollophon besteht, zischte, wenn ich die heiße Kolbenspitze eintauchte, das Lötzinn schmolz und verschwand spurlos an der Spitze des Lötkolbens. Komisch war auch, dass nie Strom floss. „Die sind doch alle kalt“, sagte mal ein Onkel, nach einem Blick auf meine Leiterplatten. Das war der Fachbegriff für nicht funktionierende Lötstellen. Mit Angeln habe ich es länger versucht.
Im Urlaub nörgelten wir so lange, bis wir die Erlaubnis bekamen, uns einen Angelschein zu besorgen. Wir suchten eine Woche lang nach dem örtlichen Angelvereinsvorsitzenden, der immer gerade weg war, wenn wir kamen. Als wir ihn endlich erwischten, stellte er uns misstrauisch und arrogant grinsend einen Angelschein aus. Am nächsten Morgen konnten wir uns mit unserer Ausrüstung auf den Weg machen. Wir waren noch nie vor unseren Eltern aufgestanden.
Mein Bruder hatte eine Glasfiberangel mit Korkgriff und Spule. Ich hatte einen Haselnussstock, Bindfaden aus der Küche und einen Haken aus Aluminiumdraht, den mir mein Vater gebastelt hatte, um sicherzugehen, dass ich nichts fangen würde. Wir hatten aus Wischlappen genähte Taschen mit speziellen Fächern für das Zubehör: Bleikügelchen in allen Größen, Brot zum Anfüttern, bunte Posen, Köcher und ein spezielles rotes Stäbchen mit einer Öse, mit dem man dem Fisch den Haken aus der Lippe ziehen konnte, ohne dass er es merkte. Wir zogen los und suchten uns eine stille Angelstelle am Fluss. Unterwegs stritten wir uns mehrmals und vertrugen uns wieder. Angekommen fütterten wir an, was das Zeug hielt, überall trieb unser Brot, kein Fisch konnte es übersehen. Die kleineren Fische, die wir fangen würden, wollten wir als Köder für größere benutzen, bis es nicht mehr größer ging.
Aber anfangs bissen sie nicht. Manchmal zitterte die Pose ein wenig, dann musste man, das wusste ich, die Rute kurz anreißen, um dem am Wurm schleckenden Fisch den Haken in die Lippe zu jagen, und danach so lange mit ihm kämpfen, bis er erschöpft aufgab. Aber der Haken schoss beim lehrbuchmäßigen Anzucken widerstandslos aus dem Wasser hoch. Es hätte mich auch sehr irritiert, wenn etwas Lebendes daran gehangen hätte.
Wir schwiegen, weil man beim Angeln nicht reden durfte. Wenn man im Boot saß und einem ein Taschenmesser runterfiel, würden sie für Stunden nicht mehr beißen, so genau hörten die Fische hin, hieß es. Unweit von uns schoss manchmal einer spritzend dicht unter der Wasseroberfläche entlang, um zu sehen, ob wir noch da waren. Wir feilten an unserer Wurftechnik, um bis zu ihnen zu kommen. Der Haken musste möglichst weit fliegen und die Sehne routinemäßig surrend eingerollt werden. Ich schwang die Angel und ließ meine Paketstrippe nach vorne schnellen. Sie verhedderte sich in einem Ast über meinem Kopf, ich musste sie durchschneiden.
Ein andermal bog die Rute sich gefährlich, aber der Haken hing nur in einer Wurzel im Wasser fest. Der schöne grüne Köcher blieb unbenutzt, auch das Gerät, mit dem man die Haken entfernte, ohne dass der Fisch es merkte. Nur mein Bruder fing einmal zwei Rotschwänze, ich fand das ungerecht von den Rotschwänzen.
Vielleicht hätte ich mehr gefangen, wenn ich als Köder Regenwürmer benutzt hätte, aber ich brachte es nicht übers Herz, dem Wurm den Haken in den Po zu schieben, bis vorn die braune Flüssigkeit herausquoll. Man wusste ja nicht einmal, ob man ihm den Haken nicht in Wirklichkeit in den Mund geschoben hatte. Festknoten kam auch nicht in Frage. „Mutti, mach mir mal den Wurm auf den Haken, es bricht mir das Herz“, soll ich gesagt haben. Ich ging bald nur noch mit meiner Mutter angeln, die nicht so viel Mitleid mit den Würmern hatte, solange es keine Mäuse waren. Wenn neben mir etwas ins Wasser plumpste, unterbrach ich für eine Weile und suchte mir eine andere Stelle.
Es war meine größte Angst, dass eine Kröte am Haken hängen könnte, ich hätte die Angel sofort weggeworfen. Dann wäre die Kröte den Rest ihres Lebens herumgeschwommen wie der Karpfen, den ich mal in einer Talsperre gesehen hatte, der eine halbe Angel hinter sich herzog.
Wenn ich den Haken wieder herauszog, hing meist nur noch ein Stück Wurmhaut dran. Die Kröten hatten den armen Wurm einfach ausgelutscht. Vielleicht auch ein schlauer Riesenwels, die ja siebzig Jahre alt werden und Erfahrung mit Anglern haben. Oder der Wurm hatte sich gehäutet wie eine Schlange, wer wusste das schon, Mutter Natur belächelte uns doch nur.
Professionelle Angler, die wir trafen, angelten mit mehreren Ruten gleichzeitig. Sie steckten sie neben sich in den Sand und warteten schweigend und rauchend. Eigentlich hätten sie auch nach Hause gehen können, aber sie angelten gerade, um nicht zu Hause sein zu müssen. Auf dem Land ist das die einzige Alternative, angeln oder zu Hause sitzen. Manche hatten Gummistiefel, die ihnen bis zum Hals reichten, und mit denen sie tief im Wasser stehen konnten. In ihren großen Eimern tummelten sich die Fische, wir durften mal gucken.
Trotz unserer mageren Ausbeute fuhren wir auch von Buch aus oft mit dem Fahrrad zum Gorinsee, den wir in Anbetracht der Tatsachen Urinsee nannten. Wir hatten ja selbst unser Scherflein dazu beigetragen, der Wasserstand soll an Badetagen im Sommer wirklich gestiegen sein.
Aber der eigentliche Grund dafür, dass der See schaumiges, gelbliches Wasser hatte, waren die Russen, die ihre Panzer darin wuschen. Die Russen waren damals in Ostdeutschland stationiert und an allem schuld. Auch Tote waren schon im See gefunden worden. Nur keine Fische.
Mit der Zeit wurde uns klar, dass es gar nicht so darauf ankam, sich von den Mädchen ideologisch zu unterscheiden. Eine vorsichtige Annäherung an ihre Prinzipien war vielleicht vielversprechender. Wir unterdrückten für eine Weile unseren Killerinstinkt und fingen mit alten Milchtüten Stichlinge in der Panke, die wir zu Hause in Küchenschüsseln liebevoll am Leben erhielten. Sie starben trotzdem. Vielleicht hätten wir kein Spülmittel ins Wasser kippen sollen.
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