: Gesammelte Randbebauung
Mit der Anmut des Provisorischen bilden seine gestapelten Kartons Wälle und Straßenzüge: Der Minimalist und Konzeptkünstler BKH Gutmann zeigt „Hellersdorfer Liebeslieder“ in der Galerie HO
Man kann so leicht verloren gehen. Die Vorstellung, nicht mehr als ein Strichmännchen auf einem Reißbrett zu sein, wächst, je näher wir den Wohnhausriegeln von Hellersdorf kommen. Hierhinaus fährt man selten auf der Suche nach Urbanität. Dabei ist das Leben in der Vertikalen hier ungeheuer dicht gestapelt.
Maßstabssprung: Kaum öffnet man die Tür zur Ausstellung der „Hellersdorfer Liebeslieder“ von BKH Gutmann in der Galerie HO, breitet sich die Welt auf Augenhöhe vor uns aus. Gestapelte Kartons bilden Wälle und Straßen nach. Sie stehen in einer Fluchtlinie, die leicht verschoben zur Achse des Raumes an manchen Stellen mit Klebeband auf dem Boden markiert ist. Ist es diese Abweichung, die der räumlichen Ordnung innen anders als den Baumassen draußen die Anmut des Provisorischen verleiht? Wahrscheinlich tragen die Materialien Packpapier und Umzugskartons, die so gar nichts Unumstößliches versprechen, zur Fragilität der Skulptur bei. Ganz sicher aber sind es die gesammelten Zeitungsausschnitte, Skulpturen aus Taschentüchern und Glasschalen mit getrockneten Blüten, die den Resonanzraum der Kartons zur Behausung von sehr persönlichen Geschichten machen.
Die Ansammlungen tragen Liedtitel. „Hymne“ heißt ein niedriger Solitär zwischen den höheren Blocks. Aus einem schmalen Schlitz schiebt sich rot und glänzend ein Tuch heraus. Eindeutig, dass dies der Ort für feierliche Repräsentationen ist. Auf dem „Lied zur Randbebauung“ liegt ein Zopf. Eigentlich ist es kein Zopf, sondern Material zur Abdichtung von Leitungen, passend zum Ambiente von Umzugskisten. Tritt man zwei Schritte zurück, gerät ein Zeitungsausschnitt in den Blick von einer Frau mit einem rückenlangen Zopf. Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herab. Warum sollte die Zauberformel im Plattenbau nicht funktionieren?
Überhaupt: das Zaubern. Das banalste Zeugs erhält in Gutmanns Sammlungen magische Qualitäten durch analoge Verkettung. Fotos von den Marsmonden haben genau die Größe, als ob man sie wie eine Billardkugel in den Händen halten könnte. Genauso groß ist darüber eine runde Luke, vielleicht Nistplatz für einen Vogel. Die Form taucht wieder auf in Knäueln aus alten Schnürsenkeln. So stellt BKH Gutmann in den Dingen einen Weltzusammenhang her, der kaum, dass man ihn formulieren will, wieder entgleitet. Aber man fühlt sich aufgehoben in dieser Ordnung.
Eingeschnittene Fenster bleiben leer, aufgesetzte Rahmen aus Pappe bleiben leer und dann kommen Gesichter von Frauen, schön wie Stummfilmstars, entrückt unter geriffeltem Glas. Als ob man nach Erinnerungen sucht und sucht und nichts findet, und erst, wenn man an anderes denkt, kehren die Bilder zurück.
Das ist eigentlich überraschend für einen Konzeptkünstler und Minimalisten, der zum Beispiel eine braune Papiertüte auf ein Rechteck aus Packpapier stellt und schon behauptet, dies sei eine Skulptur. Seine Kunstgriffe folgen oft dem Prinzip, der Welt so wenig wie möglich hinzuzufügen und den Dingen so viel wie möglich Platz zu lassen. In Hellersdorf führt das zu erstaunlicher Zartheit.
KATRIN BETTINA MÜLLER
Galerie HO, Cecilienstraße 222, 12619 Berlin, U-Bahnhof Kaulsdorf Nord, Di–Fr 12–18 Uhr, Sa 10–14 Uhr, bis 11. Mai.
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