: Design der 4. Gründerzeit
Hinterfragen und Transzendieren: Hans Nick Roericht gilt als Vater des Berliner Designs. Im Gespräch mit zwei Weggefährten fordert er die Emanzipation der Gestalter von der bunten Warenwelt
taz: Herr Roericht, nahezu drei Jahrzehnte Lehre an der Hochschule der Künste liegen hinter Ihnen. Welche Atmosphäre beherrschte das Design zu Beginn Ihrer Professur?
Hans Roericht: Unserer Lehre in Berlin lässt sich in mehrere Zyklen gliedern. Der erste war bestimmt aus der Spät-68-Position und dem gesellschaftlichen Engagement. Die Studenten wollten keine weiteren Tässchen und Stühlchen entwerfen.
Gisela Kasten: Du hast dich hier beworben mit der Haltung, unabhängig von den Launen der Industrie zu arbeiten.
Roericht: Ich war der Meinung, dass Industrie nicht gesellschaftsbildend ist. Obwohl sie noch heute behauptet, dass sie vermittle und ermögliche, etwa Arbeitsplätze schaffe.
Stellt sich ein Designer mit dieser Position ins Abseits?
Roericht: Nicht, wenn sie Teil einer Entwicklung ist. Wir kamen darüber zu einem mit den Gewerkschaften initiierten Projekt zur „Humanisierung der Arbeitswelt“. Wir schickten etwa Studenten mit der Aufgabe, die Arbeitsprozesse wahrzunehmen und lesbar zu machen, in die Fertigung von VW.
Kasten: Die Empfänger waren von den Ergebnissen positiv überrascht. Sie hatten bislang keine ganzheitlichen „Aufsichten“ ihrer Situation gesehen, sowohl von der Analyse als auch von der Vielseitigkeit. Die konventionelle Forschung hätte den parallelen Einsatz mehrerer Professionen erfordert.
Roericht: Inhaltlich saßen wir zwischen den Stühlen. Doch die Anforderung, das Gesehene – die Bewegungen, die soziale Situation etc. – darzustellen, forderte den Sinn für Gestaltung.
Solche Projekte waren ideologisch noch stark aus den 70er-Jahren bestimmt. In den 80ern kam es mit dem „Berliner Design“ zu einer Kehrtwende.
Kasten: Damals herrschte noch die Ideologie, man könnte alles erst mal im Kopf planen und irgendwann würde dann der Sprung in die Gestaltung getan. Der notwendige Schnitt war dann das „Eierbecher-Projekt“.
Roericht: Damit begann die Phase der Öffnung: Jeder Student sollte verschiedene Typen eines Eierbechers entwickeln. Für mich war die Vielfalt an Interpretationen das Spannende. Dass der Gegenstand strukturell betrachtet wurde, wie etwa der Entwurf, in dem das Ei geradezu lasziv lag und einem gemischte Gefühle bereitete, es zu köpfen.
Kasten: Sich so weit frei zu machen zum Entwerfen, bedurfte es Hilfestellungen, wie etwa die Geschichte vom „Gelbfraß“.
Roericht: Das war ein Wettbewerb der Post für den Entwurf einer neuen Telefonzelle. Mich interessierte daran der Aspekt „Telefonieren im öffentlichen Raum“. Als der konzeptionelle „Trip“ mit den Studenten nicht so richtig starten wollte, erzählte ich ihnen, dass ein Gelbfraß über die Stadt gekommen sei und alle gelben Objekte verschlungen habe. Damit konnten sich die Studenten von der Gegenwart zu lösen und neue Vorstellungen über Telekommunikation entwickeln.
Sie haben sich oft von dem Gegenstand entfernt, um den es zu Beginn des Projekts ging.
Werner Vogd: Es ist charakteristisch für Nick, dass er die Aufgabenstellung transzendiert aus seiner Beherrschung der Profession und des Details.
Kasten: Um aus der Sicht der kulturellen Dynamik die Handlungsfelder neu zu gestalten. So führte das Hinterfragen des Sitzens am Schreibtisch über moderne Arbeitskulturen zum „Stitz“, einem Stehsitz, der zur Bewegung zwingt.
Roericht: Für solche Aufgaben haben wir später die „Studien“ entwickelt: Begrenzt auf einige Tage arbeiten zehn Leute aus unterschiedlichen Professionen an einem Thema. Ständig werden Zwischenergebnisse präsentiert und so ein hochspannendes Klima erzeugt. Den Designer bestärkt diese Methode in seinem Selbstvertrauen, sich in andere Zusammenhänge zu begeben.
Kasten: Die Designer bringen mit ihren systemischen Methoden des Querdenkens, des sofortigen Simulierens alternativer Möglichkeiten und des zeitgleich sichtbar machenden Moderierens die sehr unterschiedlichen Ansätze zum Leben.
Roericht: Ich zitiere häufig Lucius Burckhardt: „Nicht die Dinge, sondern die Organisation der Dinge bestimmen die Qualität des Lebens.“ Von ihm stammt auch eine Kriterienliste für Design (siehe Kasten).
Vogd: In unserer gemeinsamen „Placebo“-Studie näherten wir uns dem Thema des Heilens von der anderen Seite. Ausgehend von homöopathischen Mitteln, deren Heilkraft pharmazeutisch nicht nachzuweisen war, fragten wir, was – außer den Wirkstoffen – die Faktoren der Heilung sein könnten. Ein Befragter brachte seine Votivkärtchen mit, ein anderer süße Pillen – alles Placebos. Es wurde die ganze Frechheit entlarvt, mit der die Pharmaindustrie etwas verkauft.
Roericht: Die Studie hat gezeigt, von wie vielen Eigenarten, die mit der Wirkstoff selbst nichts zu tun haben, eine heilende Wirkung abhängig ist.
Wohin führt dieser erweiterte Designbegriff?
Roericht: Wir befinden uns in einer vierten Gründerzeit, erst recht durch den E-Commerce. In der Regel machten die Designer keine Produktion oder Vertrieb. Inzwischen tummeln sich einige Gestaltungsbüros in diesen Bereichen. Der Designer steht an der Schwelle, sich vom Produktgestalter der Warenwelt zum Gestalter und Entwerfer im eigentlichen Sinn zu emanzipieren: Jetzt kann er sich selber die Produktionsmittel erobern!
MODERATION: MICHAEL KASISKE
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