: Krank am Begriff der Avantgarde
■ Das Radio-Bremen-Festival „Pro Musica Antiqua“ begab sich vier Tage lang auf die Suche nach mündlichen Traditionen und fand unter anderem kosmisch-rituelle Vibrationen
Schon Friedrich Hegel hat am Anfang des 19. Jahrhunderts einen Streit über das „Ende der Kunst“ vom Zaun gebrochen, der im 20. Jahrhundert aufgegriffen und mit vielfältigen Konsequenzen fortgeführt wurde. John Cage und Joseph Beuys zum Beispiel hoben den Werkbegriff auf. Sie dokumentierten aber auch, dass unter veränderten Vorzeichen vom „Ende der Kunst“ keine Rede sein kann (und es ganz sicher auch nie sein wird). Andere Reaktionen verwahrten sich gegen eine „menschenfeindliche“ Rationalität. So wurde der italienische Komponist Giacinto Scelsi von den Prinzipien der seriellen Musik regelrecht krank, und auch ein György Ligeti warnte schon Anfang der 1950er Jahre vor dieser Sackgasse. Eine Sonderausprägung dieser „Verweigerung“ ist in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion entstanden, in der sich die Kunst besonders nach dem Zusammenbruch des realen Sozialismus – grob gesprochen – in einer spirituellen Verankerung äußert oder auch in der Wiederentdeckung der Musik des Volkes.
In diesem Zusammenhang ist die Schrift „Das Ende der Zeit der Komponisten“ von Vladimir Martynow zu sehen: Der russische Komponist prophezeit emphatisch, dass mit der „Entkirchlichung“ das Prinzip der Komposition seine „innere ontologische Begründung verloren“ habe. Peter Schulze, der Leiter des Festivals „Pro Musica Antiqua“, hat auf dem sicher diskussions- und zugleich fragwürdigen Ansatz das Programm für die diesjährige „Antiqua“ zusammengestellt. Auf Anregung von Marty-now und sicher auch aus eigenem Antrieb hat Schulze ein Konzept entwickelt, das der Frage nach den mündlichen Traditionen in der Musik grundsätzlich nachgeht. Doch so schlüssig sein Konzept an sich ist, so sehr ergibt sich auch in nicht wenigen Ansätzen eine ästhetisch-denkerische Schieflage.
Die findet sich schon bei Martynow selbst: „Die Strategie der Revolution muss abgelegt, die Strategie des Rituales angenommen werden, ohne die es schlicht unmöglich ist, eine kosmische Korrelation zu erreichen“, sagt er. In seiner jetzt uraufgeführten „Nacht in Galizien“ – nicht Nordspanien, sondern Ukraine – montiert er auf der Basis eines Klanggedichtes von Velimir Khlebnikov Floskeln slawischer Volksmusik mit dem Anspruch, in eine „kosmisch-rituelle Vibration überzuleiten“, die Musik nicht Gefühl, sondern „Manifestation der kosmischen Ordnung“ werden zu lassen. Das geht dann so weit, dass das Streicherensemble „Opus Posth.“ unter der Leitung von Tatjana Grindenko mit Masken spielt und während der Aufführung ein Stangenwald aufgebaut wird, auf dem am Ende im dunklen Saal ein silberner Kreis übrig bleibt, der Kosmos wohl.
Die Musik mit einer männlichen und weiblichen Vokalgruppe fängt äußerst kraftvoll an, erschöpft sich aber schnell. Denn sie gerät in ihren eigenen Widerspruch: Das virtuose Kehlkopfmaterial, das hier perfekt und durchweg faszinierend ausgebreitet wird, gehört ja in soziale und/oder kirchliche Rituale, die sich meines Erachtens nicht über die Musikmontage eines Marty-now in einen Schlachthof in Bremen übertragen lassen. Lassen wir jedoch – und das sollte man – diesen Riesenanspruch weg, so bleibt eine erregende Information jahrtausendealter vokaler Praktiken, die der Leiter des Ensembles, Dmitry Pokrovsky, in einem abgelegenen russischen Dorf gefunden hat.
Hatte dieses „Werk“ – es heißt tatsächlich: Komposition von Vladimir Martynow – noch enorme Kraft, so klang „Supreme Silence“ des Esten Peter Vähi zum Abschluss des Festivals im Sendesaal von Radio Bremen erheblich dürftiger. Auch Vähi ist krank am Begriff Avantgarde und begibt sich in die Rituale der Kagyu-Schule des tibetischen Buddhismus. Die lag in Händen des estnischen Männerchores, des englischen Handglockenensembles „Arsis“ und der ungarischen Sängerin Irén Lovcs. Die Leitung hatte – im Frack, als dirigiere er ein Sinfonieorchester – Aivar Mäe. Zauberhaft die unbekannten Klänge des Handglockenensembles, für uns schwer nachvollziehbar und unterm Strich ganz einfach langweilig ergänzt von den Sprechgesängen der Männer. Höhepunkt des Stückes sollte der dritte Satz sein, ein fünfminütiges Schweigen. Das fiel natürlich weg, denn das funktioniert ja nicht für eine Radioübertragung.
Trotz dieser Fragen können wir Peter Schulze dankbar sein für die aufwändige Information dieser Positionen. Spannend am Festival war allemal, dass der Ansatz, traditionelle und vor allem mündliche Traditionen in zeitgenössischer Musik, auch noch ganz anders aufbereitet wurde. So zum Beispiel im Konzert von „Millenarium“: Christophe Deslignes spielt das Organetto, ein auf den Knien sitzendes knapp zwei oktaviges Orgelchen, dessen Tonerzeugung mit einem Blasebalg funktioniert. Er improvisierte im Stil des 14. Jahrhunderts, einfühlsam unterstützt durch die Perkussion von Thierry Gomar. Die Klanglichkeit – fast wie ein Blasinstrument – kombiniert mit den für uns verschütteten Orientalismen in den Melodien, hatte einen hohen Reiz. Oder Maria Jonas, die zusammen mit dem Flötisten Nobert Rodenkrichen als Ensemble „Diphona“ den ambitionierten Versuch machte, eine mozarabische Lamentation aus dem 11. Jahrhundert zu rekonstruieren, Jeremia-Lamentationen von John Tuder aus dem 15. Jahrhundert zu singen und durch zeitgenössische, leicht postmoderne Stücke von Norbert Rodenkrichen aufzufüllen.
Geschriebene alte Musik, die sich an Volksmusiktraditionen orientiert und ihren Reichtum aus tänzerischen Modellen entwickelt, spielte in diesem Festival nur das fabelhafte „Tragicomedia“ unter der Leitung von Stephen Stubbs. Unter dem Titel „Capritio“ blühte die witzige und spontane, häufig auch der Sprache nachgebildete Instrumentalmusik des 17. Jahrhunderts. Zwei wirkliche Volksmusikkonzerte waren für mich die schönsten Repräsentanten des Festivalkonzeptes: Der gemeinsame improvisatorische Auftritt eines andalusischen und eines indischen Ensembles unter dem Titel „Maharaja Flamenca“ (siehe taz vom 5. Mai). Hier war Altes in Neuem in perfekter Harmonie aufgehoben wie auch in der Klezmermusik der Gruppe „Budowitz“, die in der fast ausverkauften Schauburg hinreißend ihre „gezielten Schlampereien, dreckig und dissonant“ – wie der Leiter Josua Horowitz die rituelle Klezmermusik beschreibt – spielten.
Insgesamt musste man nicht mit allem einverstanden sein, selten aber bekommt man so viele Denkanregungen wie bei diesem nunmehr 30 Jahre alten Festival, das seine Existenzberechtigung eindrucksvoll bewiesen hat.
Ute Schalz-Laurenze
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen