: Hochrechnung des Grauens
Eine Studie beziffert die Zahl der Opfer des Kongokriegs auf 2,5 Millionen Menschen. Experten halten dies für glaubhaft
von DOMINIC JOHNSON
Der Kongokrieg hat „vielleicht den schlimmsten Verlust an Menschenleben in Afrika in den vergangenen Jahrzehnten“ verursacht, sagt Reynold Levy, Präsident der US-Hilfsorganisation IRC (International Rescue Committee). Auf 2,5 Millionen schätzt das IRC die direkten und indirekten Opfer des 1998 begonnenen Krieges allein im Osten der Demokratischen Republik Kongo. Dort lebten vor Kriegsbeginn knapp 20 Millionen Menschen. Demnach wäre in etwas über zweieinhalb Jahren ein Achtel der Bevölkerung am Krieg gestorben. 350.000 davon sind laut IRC direkte Opfer von Kampfhandlungen, die anderen starben kriegsbedingt an Seuchen, Hunger und Folgen von Flucht.
Diese Zahlen stehen in einer Studie des IRC, die gestern in New York vorgestellt wurde. Sie wurden aus statistischen Erhebungen in elf Regionen hochgerechnet, die im Jahr 2000 begannen und in diesem Jahr fortgesetzt wurden. Unter Vorkriegsumständen, so das IRC, wären in Kongos Ostprovinzen zwischen August 1998 und April 2001 statistisch 1 Million Todesfälle zu erwarten gewesen; tatsächlich aber waren es 3,5 Millionen.
Die Feldforscher des IRC, das sonst im Kongo Kriegsvertriebene betreut, gingen laut Eigenaussage nach gängigen statistischen Methoden der Weltgesundheitsorganisation vor. Sie wählten elf Gebiete mit einer Gesamtbevölkerung von 1,268 Millionen Menschen aus. Dort suchten sie nach einem Mix aus Zufallsprinzip und Gewichtung nach Bevölkerungsdichte einzelne Orte aus, in denen sie Haushalte besuchten. Sie fragten nach Todesfällen und deren Ursachen. Um das Verschwinden ganzer Haushalte mit einzubeziehen, wurde auch nach Nachbarn gefragt.
Insgesamt lebten in den von den IRC-Untersuchern befragten Haushalten 18.450 Personen. Die gelten als repräsentativ für die untersuchten Gebiete und diese wiederum als repräsentativ für den gesamten Osten des Kongo.
Diese Methodologie befremdet manche Beobachter. „Auf der Grundlage mathematischer Hochrechnungen solche Zahlen zu verbreiten, halte ich für problematisch“, sagt der Leiter einer kongolesischen Hilfsorganisation in der Rebellenhauptstadt Goma. Er bezweifelt nicht die vom IRC nahe gelegten Todesraten, befürchtet nun aber einen „Krieg der Zahlen“ im Kongo wie schon beim ruandischen Völkermord. Eine UN-Mitarbeiterin in Goma meint: „Die Leute werden natürlich über die Hochrechnungsmethode streiten. Aber ich halte die Studie für glaubwürdig. Die erste Studie im Jahr 2000 wurde vorab von drei Expertengruppen überprüft. Die Folgestudie wurde noch breiter angelegt.“
Die Indizien des Massensterbens jedenfalls sind für das IRC eindeutig und sichtbar. Es gibt viel zu wenig Kinder – und, angesichts des beginnenden Friedensprozesses im Kongo besonders wichtig, die Sterberaten liegen in diesem Jahr über denen des Jahres 2000, die schon über denen von 1999 lagen. Dies bestätigen auch Untersuchungen anderer Hilfsorganisationen.
Der Studie droht aber die Gefahr der politischen Instrumentalisierung. Kongos Präsident Joseph Kabila sagt seit Wochen, die ruandischen und ugandischen „Aggressoren“ im Kongo seien für den Tod von 2,5 Millionen Kongolesen verantwortlich, und spricht von juristisch zu ahndendem „Völkermord“. Das IRC betont jedoch, dass alle Kriegsparteien für die Gewalt und das Elend verantwortlich seien.
Das IRC selber schreibt, dass die Nachricht „Zweinhalb Millionen Tote im Kongo“ nur eine von mehreren möglichen Interpretationen der Studie sei. Man könne auch die untersuchten Gebiete für sich stehen lassen: „In vier von sieben besuchten Gebieten sterben jedes Jahr mindestens 8 Prozent der Bevölkerung, und es gibt zwei- bis dreimal so viele Todesfälle wie Geburten.“ Das ist nicht weniger dramatisch. Die Studie enthält mehrere Modellrechnungen mit veränderten Basisannahmen, um eventuelle Ungenauigkeiten auszugleichen. Das Ergebnis ist eine Bandbreite möglicher kriegsbedingter Todesfälle, die von 2,1 bis 3,6 Millionen reicht. Dazu heißt es lapidar: „Die möglichen Ergebnisse reichen von schrecklich bis schrecklich.“
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