piwik no script img

Entdeckungsfahrt im Ballon

■ Der Bremer Literat Jürgen Dierking liest aus der neu edierten Erstfassung von Friedo Lampes „Septembergewitter“

„Nachmittags so gegen vier Uhr war der Ballon in der Nähe von Osnabrück in die Luft gestiegen – und nun glitt er sanft da oben durch den stillen blauen Raum, schöne weiße, runde Wolken glitten neben ihm her, und da unten lag unendlich weit gebreitet das grüne Wiesenland.“ Der Autor, Friedo Lampe, 1899 geboren, ist Mitte Dreißig, als er das „Septembergewitter“ schreibt. Er geht sofort in medias res: Was für ein Ballon, fragen wir uns. Warum gleitet er durch die Luft, und welchem Ziel zu? Lampes Erzähler breitet ein Panorama vor uns aus. Ein geschickter Erzähler ist er, einer, der uns auf die Wiese stellt, unseren Blick hebt zum Ballon „da oben“. Und der noch im selben Satz unsere Perspektive dreht, uns hineinnimmt in den kleinen Hängekorb.

„Da unten liegt eine Stadt am Fluss.“ Allein schon die kurze Einführung fasziniert. Und noch einmal ändert sich die Blickrichtung. Die Kühle in luftiger Höhe, der idyllische Eindruck, der beim Blick durchs Fernglas entstehen mag, wird gewissermaßen auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. „Denn da unten, da war es gar nicht kühl, sondern es war ein schwüler Sommernachmittag, windstill und schwelend.“ Die kühle Aufsicht bricht sich im fiebrigen Mittendrin.

Die Fahrt ist Inhalt einer Wette. Mr. Pencock hatte seinem Freund Hamstead gegenüber behauptet, „dass er den Mut habe, mit einem Ballon von Deutschland nach England zu segeln“. Auch wenn Lampe uns zu diesem frühen Zeitpunkt nicht darüber informiert, wann dieses Unternehmen stattfindet, kann man doch davon ausgehen, dass die LeserInnen der 37er-Erstausgabe den feinen Stich sehr wohl wahrzunehmen im Stande waren. Nach England. 1937. Andererseits hat das „Septembergewitter“, Lampes zweiter Roman nach „Am Rande der Nacht“ (1933), wie Wolfgang Koeppen zwanzig Jahre nach Erscheinen feststellte, „neben der allerbreitesten Nichtbeachtung die Bewunderung weniger“ gefunden. Ein Befund, der sich vielleicht gerade jetzt erst ändert. Die Resonanz auf den ersten, ebenfalls im experimentierfreudigen Göttinger Wallstein-Verlag erschienenen Roman „Am Rande der Nacht“ war beachtlich.

Lampes Biobibliografie hat noch mehr zu bieten. Eine schräge Editionsgeschichte. Ein Leben, wie es tragischer kaum sein könnte. Eingezogene Bücher, auf Druck geänderte Textfassungen, die für sich genommen ein interessanter Stein sind in einer literarischen Alltagsgeschichte des letzten Jahrhunderts. Das Nachwort des Herausgebers Jürgen Dierking, einem der vehementesten Re-Animierer des Lampeschen uvres, gibt eine Ahnung davon. Und nicht zuletzt ist ebendieser Herausgeber einer, der seinem Schützling souverän die Stimme leiht. Tim Schomacker

Lesung heute, Freitag, 20 Uhr in der Stadtwaage, Langenstraße 13.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen