Die Grenzen des Zeigbaren

betr.: „Bildwelt“ „8. Mai 1945. Kriegsende – Friedensbeginn“, taz vom 8. 5. 01

Die taz vom 8. Mai 2001 erinnert auf den Seiten vier und fünf an das Kriegsende vom 8. Mai 1945. [...] Gleichzeitig macht die taz darauf aufmerksam, dass am Mittwoch, den 9. Mai die ARD einen Film ausstrahlen wird, der sich mit den Fotografien des „Soldaten mit der Kamera“ auseinander setzen wird.

Die FAZ vom 9. Mai macht ebenfalls auf diese Ausstrahlung aufmerksam, indem sie in ihrem Vorabdruck des Fernsehprogramms für den Abend des 9. Mai eine Fotografie des amerikanischen Soldaten Tony Vaccaro abbildet. Während die taz es sich nicht nehmen lässt, unappetitliche Bilder zu zeigen, entscheidet sich die FAZ für ein eher doppeldeutiges Bild.

Während die Fotos in der taz die schmutzige Seite des Krieges zeigen und darstellen, dass der Sieger auch von der Unterwerfungslust der Besiegten scheinbar profitiert, ist diese Eindeutigkeit in dem von der FAZ abgebildeten Foto nicht zu finden. [...] Das Foto zeigt ein französisches Kind, das unter den Augen tanzender Mütter einen amerikanischen Befreier auf die Wange küsst. Wenn heute dieses Bild sofort in der Assoziation die Gefahr des gebannten Missbrauchs aufscheinen lässt, so sind die Fotos in der taz eindeutiger, sie verzichten auf „unheimliche“ Dimensionen, sie zeigen zum Beispiel die öffentliche Fellatio einer deutschen Frau, vorgenommen an einem amerikanischen Sergeant. Warum die orale Sexualität in der Öffentlichkeit sehr schnell mit dem Unterwerfungsgestus und dem Missbrauch verknüpft wird, ist sicher in der Tradition des christlichen Abendlandes zu verstehen, die Sexualität generell unter Abrede gestellt hat. Welche Spielarten der Sexualität in der Öffentlichkeit gezeigt werden dürfen, ist weitgehend abhängig von „männlicher“ Kontrolle.

An diesem Punkt lässt sich die Frage diskutieren, welche Realität für eine politisch informierte Öffentlichkeit diskutierbar ist. Die taz hat mit der Auswahl ihrer Bilder sicherlich die Dimension unterschlagen, die für viele Menschen in dem vom Nationalsozialismus gegeißelten Europa von Bedeutung war. Die amerikanischen Truppen waren Befreier, die die Hoffnung auf ein besseres Leben in Freiheit mit sich brachten. Die Realität des Krieges bedeutet, dass auch der beste „Vater“ seine Schattenseiten hat. Wer die Realität der Schattenseiten verdrängt bzw. leugnet, ist sehr gefährdet, sie zu wiederholen. Dies ist eine zentrale Aussage der Psychoanalyse. Bezogen auf die Fotos in der taz und in der FAZ: Zwar mag niemand die Realität des Krieges so sehen, wie die taz sie anhand der Fotos von Tony Vaccaro gezeigt hat, andererseits kommt ihr eine aufklärerische Funktion zu, die verdrängten Dinge werden dem Bewusstsein näher gehalten und möglicherweise so nicht der Gefahr ausgesetzt, dass sie sich wiederholen könnten. [...]

Die Tatsache, dass die taz ständig von einem finanziellen Desaster bedroht ist, verweist unter anderem darauf, dass sie nicht bereit ist, bürgerliche Illusionen zu bedienen, so wie es andere, erfolgreichere Blätter, in diesem Falle die FAZ, machen.

FALK BERGER, Psychoanalytiker am Sigmund-Freud-Institut,

Frankfurt/Main