: Protestreisen ohne amtlichen Segen
Ab Donnerstag wollen Asylbewerber und Flüchtlingsinitiativen aus dem ganzen Bundesgebiet in der Mitte Berlins gegen die so genannte Residenzpflicht protestieren. Das ist ein Akt des zivilen Ungehorsams: Denn für die Fahrt in die Hauptstadt brauchen die Flüchtlinge eigentlich eine amtliche Erlaubnis
von HEIKE KLEFFNER
Die Mobilisierung läuft auch Hochtouren: Vom kommenden Donnerstag bis zum Samstag wollen Asylbewerber und Flüchtlingsinitiativen aus ganz Deutschland mitten in Berlin Gesicht zeigen. Ihre zentrale Forderung: Die Abschaffung der so genannten Residenzpflicht. Diese verbietet den Asylsuchenden unter Strafandrohung, den von den Ausländerbehörden zugewiesenen Landkreis ihres Aufenthaltes ohne Erlaubnis der Behörden zu verlassen. Als Ort ihres Protestes haben die Flüchtlinge den Berliner Schlossplatz gewählt: Hier wollen sie drei Tage lang in Zelten schlafen, offene Workshops und Podiumsdiskussionen zu den Lebensbedingungen von Flüchtlingen veranstalten und demonstrieren: Am Donnerstag vormittag soll Vertretern des Bundestages eine Petition überreicht werden, am Samstag werden zu einer bundesweiten Demonstration mehrere tausend Teilnehmer erwartet.
Noch herrscht bei den Organisatoren und ihren deutschen Unterstützern das kreative Chaos: Gesucht werden Decken, Matratzen, Zelte und Spenden, um die rund 500 Flüchtlinge, die erwartet werden, auf dem Schlossplatz zu versorgen. Auch die Genehmigung des Baustadtrates von Berlin-Mitte, auf dem denkmalgeschützten Platz Zelte aufzuschlagen, liegt noch nicht vor. Trotzdem ist Christopher Nsoh, Asylbewerber aus Kamerun und einer der Sprecher der brandenburgischen Flüchtlingsinitiative, zuversichtlich: „Die Situation vieler Flüchtlinge ist so menschenunwürdig, dass uns niemand das Recht absprechen kann, zu protestieren.“
Ein Jahr lang sind Vertreter der Brandenburger Flüchtlingsinitiative und von The Voice aus Thüringen durch die „Heime in den Wäldern von Ostdeutschland“ getourt. Hunderte von Flüchtlingen haben ihnen die immer gleichen Geschichten erzählt: Von Ausländerbehörden, die sich weigern, die notwendigen Urlaubsscheine auszustellen, damit Flüchtlinge Verwandte in westdeutschen Großstädten oder ihre Rechtsanwälte in Berlin legal und ohne Angst vor Polizeikontrollen besuchen können. Von den entwürdigenden Szenen in den Supermärkten der Kleinstädte, wo die Asylbewerber mit Gutscheinen und Chipkarten an Extra-Kassen einkaufen müssen. Und von den rassistischen Übergriffen und der sozialen Isolation in zu Flüchtlingsheimen umgewandelten NVA-Kasernen und Landschulheimen, wo die Busse zur Fahrt in die nächstgelegene Stadt nur zweimal am Tag anhalten.
„Die Residenzpflicht ist ein klarer Verstoß gegen Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes und gegen die UN-Menschenrechtskonvention,“ sagt Christopher Nsoh, der als Jurist in seinem Heimatland Kamerun für die Opposition gearbeitet hat. „Das Recht auf Bewegungsfreiheit ist ein universell gültiges Grundrecht.“ Das sieht der Gesetzgeber in Deutschland allerdings anders: Bis zur Verabschiedung eines bundesdeutschen Ausländergesetzes im Jahr 1965 mussten sich in der Bundesrepublik Flüchtlinge nach den Bestimmungen einer von den Nationalsozialisten im Jahr 1938 erlassenen „Ausländerpolizeiverordnung“ im Bundessammellager im bayrischen Zirndorf aufhalten. 1974 beschloß die Bundesinnenministerkonferenz dann eine Umverteilung der Asylsuchenden auf die einzelnen Bundesländer. Angesichts steigender Asylbewerberzahlen führte die CDU/CSU/FDP-Regierungskoalition dann 1982 erstmals im Asylverfahrensgesetz einen Paragrafen ein, mit dem die Bewegungsfreiheit der Betroffenen auf die Landkreise ihres Wohnortes beschränkt wurde. Diese Regelung findet sich heute im Asylverfahrens- und im Ausländergesetz.
Wer gegen die Residenzpflicht verstößt, wird bestraft: Beim ersten Mal droht eine Geldstrafe von 125 Mark; bei „Wiederholungstätern“ wird aus der Ordnungswidrigkeit eine Straftat, die mit Geldstrafen bis zu 5.000 Mark oder Gefängnisaufenthalt geahndet werden kann. „Verstöße gegen die Residenzpflicht sind Straftaten, die nur von Flüchtlingen begangen werden können und dann in den entsprechenden Statistiken zur Ausländerkriminalität auftauchen,“ sagt Christopher Nsoh.
Bei den Parteien stößt die Forderungen nach Bewegungsfreiheit von Asylsuchenden auf unterschiedliche Resonanz: Während die PDS die Berliner Aktionstage unterstützt, hält man sich in der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen bedeckter. Zwar hatte die Bundesdelegiertenkonferenz der Partei im Frühjahr ihre Bundestagsabgeordneten aufgefordert, sich für die Abschaffung des Asylbewerberleistungsgesetzes und der Residenzpflicht einzusetzen: Doch niemand glaubt, dass unter Bundesinnenminister Otto Schily (SPD) eine gesetzliche Neuregelung möglich ist.
Innerhalb der SPD sind die Meinungen über Sinn und Unsinn der Residenzpflicht geteilt. Dieter Wiefelspütz, innenpolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, jedenfalls hält sie für „unverzichtbar“ und die Forderung der Flüchtlingsinitiativen für „überzogen“. Wiefelspütz räumt zwar ein, dass die Bestimmung wie eine Schikane wirke; sie sei es aber nicht. Seine Argumentation: Ohne Residenzpflicht würden sich Asylsuchende in wenigen Städten niederlassen. Dies könnte „Ablehnung bei der Bevölkerung“ und finanzielle Nachteile für die betroffenen Kommunen hervorrufen.
Christopher Nsoh will sich davon nicht entmutigen lassen: „Wir wollen der Regierung und der deutschen Bevölkerung zeigen, dass Bewegungsfreiheit ein Recht und kein Bedürfnis ist.“ Es sei „ein Akt zivilen Ungehorsams“, wenn Flüchtlinge zur Teilnahme an den Aktionstagen keinen „Urlaubsschein“ bei den Ausländerbehörden beantragen würden. „Wir glauben an die Macht der Argumente.“
Informationen zum Programm der Aktionstage: www.humanrights.de und www.umbruch-bildarchiv.de. Spenden an die Antirassistische Initiative e.V., Tel. (0 30) 7 85 72 81
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